Text: Peter Drizhal
Während des Nationalsozialismus wurden von 1933 bis 1945 Hunderttausende Menschen in Deutschland und anderen europäischen Ländern als „Zigeuner“ verfolgt. Die größten Gruppen in Europa waren die Sinti und Roma – aber auch Angehörige der Lalleri, Lowara, Manusch sowie der Jenischen wurden gefangengenommen, verschleppt und und aufgrund der irrsinnigen Rassenideologie ermordet. Die genaue Anzahl der als „Zigeuner“1 verfolgten Menschen, wird sich wohl nie genau bestimmen lassen. Schätzungen reichen bis zu 500.000 ermordete Männer, Frauen und Kinder.
Aktion – Steine des Anstoßes
1992 beschloss die Bundesregierung Deutschlands die Errichtung eines nationalen Denkmals in Erinnerung an die Ermordung der verfolgten europäischen Sinti und Roma.
Dann passierte jahrelang nichts. Mitte der 90er Jahre organisierten Organisationen wie die Liga für Menschenrechte eine jährliche Kundgebung, bei der an jedem ersten Wochenende im September Aktivist:innen Steine (Steine des Anstoßes) hierher trugen und auftürmten.
Das Denkmal wurde 20 Jahre nach dem Beschluss der Deutschen Bundesregierung am 24. Oktober 2012 feierlich eröffnet. Reinhard Florian, ein Überlebender des Völkermordes, sagte damals:
„Jetzt haben unsere Toten endlich ein Zuhause.“
Das Denkmal wurde von dem jüdischen Architekten und Bildhauer Dani Karavan geschaffen, der unter anderem auch die „Straße der Menschenrechte“ in Nürnberg schuf.
Und hier in Berlin gestaltete er nahe den Gebäuden des Bundestages eine Glaswand, auf die er die Grundrechtsartikel eingravierte. Ich möchte euch nicht die Worte vorenthalten, die er über dieses Denkmal schrieb:
Eine Lichtung im Tiergarten, gesäumt von Bäumen und Büschen, nahe dem Reichstagsgebäude.
Ein kleiner, unscheinbarer Platz, der sich dem Lärm der Großstadt entzieht. Ein Ort innerer Anteilnahme, ein Ort, den Schmerz zu fühlen, sich zu erinnern und die Vernichtung der Sinti und Roma durch das nationalsozialistische Regime niemals in Vergessenheit geraten zu lassen.
Ist ein solcher Ort überhaupt möglich? Ist das Mögliche vielleicht die Leere, das Nichts? Habe ich in mir die Kraft, einen Ort des Nichts zu erschaffen? An dem es nichts gibt. Keine Worte, keine Namen, kein Metall, keinen Stein.
Nur Tränen, nur Wasser, umringt von den Überlebenden, von jenen, die sich des Geschehenen erinnern, von denen, die das Grauen kennen, und anderen, die es nicht kannten.
Sie alle spiegeln sich hier, auf dem Kopf stehend, im Wasser der tiefen, schwarzen Grube, während der Himmel sie bedeckt – das Wasser, die Tränen.
Nur ein einzelner kleiner Stein, der versinkt und emporsteigt, wieder und wieder, Tag für Tag. Und auf ihm jeden Tag eine neue kleine Blüte, um sich jedes Mal aufs Neue zu erinnern, in Erinnerung zu rufen, unentwegt, bis in alle Ewigkeit.
Das Wasser umfängt den Himmel, den blauen, den grauen, den schwarzen Himmel. Die Wolken, das Licht, das Dunkel. Alles wird verschlungen vom wirbelnden Wasser.
Allein der Klang einer einsamen Geige ist geblieben von der gemordeten Melodie, schwebend im Schmerz.
Elemente des Denkmals
Wasser
Inmitten der Lichtung liegt ein kreisrunder See von etwa zwölf Metern Durchmesser, bestehend aus einer Wanne dunkel beschichteten Stahls. Dadurch soll der Eindruck entstehen der See sei unendlich tief. Bei entsprechendem Licht spiegelt er die gesamte Umgebung: Die Besucher, die Bäume, den Himmel und auch das mächtige Reichstagsgebäude.
Dreieckiger Sockel mit Blume
Aus der Mitte des Sees ragt flach ein dreieckiger Sockel aus Granit. Seine Form erinnert an die winkelförmige Häftlingskennzeichnung in den NS-Lagern. Der Sockel senkt sich täglich zur Mittagszeit in die Tiefe hinab und wird kurz darauf mit einer frischen Blume versehen wieder an die Wasseroberfläche gefahren.
Steine mit Ortsnamen
Rings um den See in die Rasenfläche sind grob gebrochene Steinplatten eingelassen, die in ihrer Form an Scherben (Zerstörung, Zersplitterung, Verlust, Verletzung) erinnern können.
In einen Teil dieser Platten sind die Namen von 69 Orten eingebracht, an denen sich Vernichtungs-, Konzentrations- und Sammelstätten befanden, oder an denen Erschießungen von Sinti und Roma stattfanden.
Gedicht „Auschwitz“
Auf dem Rand der Brunnenschale ist das Gedicht »Auschwitz« des italienischen Roma-Musikers, Komponisten und Hochschullehrers Santino Spinelli in deutscher und englischer Fassung zu lesen.
Eingefallenes Gesicht – erloschene Augen – kalte Lippen – Stille –
ein zerrissenes Herz – ohne Atem – ohne Worte – keine Tränen.
Geigenton
Innerhalb dieses Denkmal-Raumes ist ein sich ständig verändernder Geigenton zu hören. Es ist das Stück „Mare Manuschenge“ („Unseren Menschen“), eigens für dieses Denkmal komponiert von Romeo Franz.
Der Geigenton folgt einer Moll-Tonleiter, die der traditionellen Musik der Sinti zugrundliegt und auch im modernen Sinti-Jazz und Sinti-Swing charakteristisch ist. Romeo Franz spielt dieses Stück mit dem Geigenbogen seines Großonkels, der in Ausschwitz ermordet wurde.
Im Oktober 2022 wurde das Denkmal durch eine Freiluftausstellung ergänzt.
Hier stehen die Biografien von neun verfolgten oder ermordeten Roma und Sinti aus verschiedenen europäischen Herkunftskontexten. Auf Medienstationen werden animierte Kurzfilme zu den neun Biografien gezeigt.
Daneben stellt die Ausstellung die europäische Dimension des Völkermords dar, erzählt Geschichten des Widerstands und bildet den mühsamen Einsatz der Bürgerrechtsbewegungen um Anerkennung ab.
Soziale Situation heute
Anlässlich einer Festveranstaltung zum Internationalen Roma-Tag im Österreichischen Parlament am 18. 5. 2023 sprach auch Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
Obwohl in den letzten Jahren auf politischer Ebene viel erreicht worden sei, beobachte er in vielen Ländern Europas “mit Schrecken” einen neuen Nationalismus und das Anwachsen von Antisemitismus und Antiziganismus2.
“Die systematische Segregation (Entmischung) und Ausgrenzung von Roma in ihren Heimatländern besonders in Mittel- und Osteuropa im Bereich von Wohnen, Bildung, Gesundheit und Arbeit kommen einer Form von Apartheid gleich”.
Dies sei mit den europäischen Werten der Menschenwürde nicht vereinbar. Antiziganismus sei “eine Gefahr für unsere gesamte Gesellschaft und bedroht unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie. Bis heute lebt ein Großteil der Sinti und Roma in der EU am Rande der Gesellschaft, in den letzten 20 Jahren ist sogar eine Verschlechterung ihrer Situation festzustellen.
Aufgrund dieser schon angesprochenen Ausgrenzungen sind Sinti und Roma aufgrund der schlechten Bildung häufig mit Schwierigkeiten konfrontiert, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Beschäftigungsquote liegt für Angehörige der Minderheit in manchen europäischen Ländern sogar unter 50 Prozent.
Eine weitere Folge der sozial schwierigen Situation ist eine vergleichsweise hohe Sterblicheitsrate. So liegt die Lebenserwartung bei Sinti und Roma etwa 10 – 15 Jahre unter der durchschnittlichen Lebenserwartung von Nicht-Roma oder Nicht-Sinti. Bislang gibt es in der EU kein allgemeines Diskriminierungsverbot gegenüber Sinti und Roma.In Österreich, wo ca. 50.000 Roma und Sinti wohnen – gibt es seit 30 Jahre eine Anerkennung der Roma und Sinti als eigene Volksgruppe.
Die deutschen Sinti und Roma sind eine der vier anerkannten Minderheiten in Deutschland. Ungefähr 60.000 Sinti und 10.000 Roma leben in Deutschland.
Zu den nationalen deutschen Minderheiten gehören neben den Sinti und Roma auch die Sorben, die friesische Volksgruppe und die dänische Minderheit. Sie alle leben in Deutschland und haben die deutsche Staatsangehörigkeit.
Der 2. August ist, entsprechend einem Beschluss des Europäischen Parlaments, seit 2015 Tag des Internationalen Gedenkens an den Völkermord an Roma und Sinti. Österreich hat sich dem angeschlossen.
Im Jänner dieses Jahres entschloss sich der Nationalrat, den 2. August zum nationalen Gedenktag zu erheben.
Bei der Festveranstaltung wurde auch kritisiert, dass es in Österreich kein eigenes nationales Mahnmal gibt.
Alle Redner des Festaktes haben sich dafür ausgesprochen.
Ich hoffe, dass seine Errichtung nicht so lange dauern wird, so wie es hier passiert ist.
Herzlichen Dank an Peter für die Zusammenstellung. Hier sind noch Artikeln aus dem Blog, die zu diesem Thema passen:
- Ein Begegnungsplatz zum Roma-Gedenken in Langental
- Die verschwundenen Romasiedlungen im Burgenland
- Geschichten der Burgenland Roma und Romnija
- Verschleppung und Ermordung der Sinti und Roma in Trier
- Roma und Sinti in Buchenwald
- ORF – Die Sichtbarkeit der Verfolgung
- Das Bombenattentat in Oberwart
- 1993 Staatliche Anerkennung der Rom:nija als ethnische Volksgruppe
- Grausamkeiten und Gräueltaten der Habsburger gegenüber den Rom_nija
- Das “Verschlingen” in Ritzing
- Lackenbach – an den Rand gedrängt und ein Lager
- Bericht über unsere Studienreise zur Geschichte der Rom:nija in Burgenland
- So gewaltig ist nichts wie die Angst
Quellenverzeichnis:
- Wir verwenden den Begriff beim Einstieg, weil es der Nazi-Diktion entsprach und unter diesem Überbegriff entsetzliche Gräueltaten verübt wurden. “Zigeuner” ist ein Schimpfwort
Menschen mit vor allem osteuropäischer Abstammung. Der Begriff ist allerdings abzulehnen, da es sich dabei um eine negativ behaftete Fremdbezeichnung einer Mehrheitsgesellschaft handelt.
Damit ist gemeint, dass Angehörige dieser Minderheit den Begriff für sich selbst nicht verwenden und diesen als diskriminierend empfinden. Der Begriff steht untrennbar mit rassistischen Zuschreibungen, Klischees und negativen Stereotypen in Zusammenhang.
Aus diesem Grund ist es nicht möglich, den Begriff als wertneutral zu sehen. Damit ignoriert man zum einen seine Geschichte und zum anderen auch die Tatsache, dass “Zigeuner” in rechtsextremen Gruppierungen teilweise immer noch als Beleidigung verwendet wird, wenn beispielsweise die Rede von einem “Zigeunerpack” ist. ↩︎ - Antiziganismus stigmatisiert und diskriminiert Menschen und Gruppen, die als “Zigeuner” bezeichnet werden. Antiziganisten begegnen diesen mit verdeckter oder offener Feindseligkeit bis hin zu Gewalt. Man kann Antiziganismus als Form des Rassismus verstehen, da auch hier einer Personengruppe pauschal negative und von der Mehrheitsgesellschaft (vermeintlich) abweichende Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden. ↩︎