Excedirende Tabakarbeiterinnen in Stein

Im Artikel “Das interessante Blatt vom 15.7.18861” schreiben sie in der Einleitung von einem unbedeutenden Vorfall und doch ziert die Titelseite ein großes Bild der protestierenden Frauen und der Leitartikel auf Seite 2 beschäftigt sich mit dem Vorfall.
Wenn eine Frau, die seit 20 Jahren fleißig für die Tabakfabrik arbeitet, ihre Bestrafung eines wöchentlichen Lohnabzugs nicht anerkennt, wird sie entlassen. An die hundert Arbeiterinnen erklärten sich mit ihr solidarisch und sie erregten einen Exzess durch Schreien, Fluchen, Poltern und Aufschlagen mit den Werkzeugen auf den Tischen, den die Hauswache beilegen musste.

Die Arbeiterinnen der Steiner Tabakfabrik excediren2 wegen Entlassung einer widersetzlichen Collegin.

Solche Ereignisse und die Geschichte der Tabakfabrik schilderte uns Edith Blaschitz, Assistenzprofessorin und Historikerin an der Universität für Weiterbildung in Krems, bei unserer Führung durch die Ausstellung “Geschichte der Tabakfabrik Stein – zwischen Wohlfahrt und Widerstand“.

Hier im Betrieb wurde die Virginiazigarre3 hergestellt. Ein Freund meines Opas rauchte dieses krumme Ding. Die Zigarrenraucher mögen mir verzeihen – mir ist der grausliche Gestank in Erinnerung gebeliben.

Anfänge in Stein – die Industrialisierung war von weiblichen Arbeiterinnen geprägt.

Die Tabakfabrik war eine ersten Großbetriebe der Region. 1876 arbeiteten hier 492 Arbeiterinnen und 19 Arbeiter. Viele junge Frauen aus dem Waldviertel sowie aus Wien und Böhmen siedelten sich hier an.

Arbeiterinnen vor der “alten Tabakfabrik” (heute Kunsthalle in Krems) um 1880

Die Steiner Fabrik gehörte zur k.u.k. Tabakregie, die bis 1918 insgesamt 30 Tabakfabriken in den Kronländern der Monarchie betrieb.Nicht die Geschicklichkeit der Frauen war die Ursache des hohen Frauenanteil bei den Beschäftigten, sondern der geringere Lohn für die Frauen, um damit einen noch höheren Profit zu erreichen.

Schautafel in der Ausstellung – die Kundmachung im Sonntagsblatt

Beschimpfungen, körperliche Züchtigung und willkürliche Entlassung und geringe Bezahlung prägen den Arbeitsalltag

Arbeiter Zeitung am 1. Oktober 1897 – digitales Archiv der ÖNB4

“Wenn man drei Stunden in den Hallen dieser Fabrik verbracht hat, bekommt man soviel Tabakrauch in die Nase, dass man für den ganzen Tag versorgt ist.”5

Diese Frau bündelt die Röhren der Virginiazigarre

Eine neue Fabrik mit verbesserten Arbeitsbedingungen

1922 wurde die neue Fabrik, in der sich heute die Universität für Weiterbildung befindet, eröffnet. Die “Österreichische Tabakregie” entwickelte sich zu einem sozialen Unternehmen.Ende des 19. Jhdt. ließ die Generaldirektion die Wohnverhältnisse der Arbeiter:innen erheben. Rund 50 Prozent lebten unter elenden Wohnbedingungen in sogenannten Kleinstwohnungen, die nur aus einem Wohnraum (17qm) bestanden und keine Küche hatten.

Da 70 Prozent der Beschäftigten in der Nähe der Fabrik wohnten, plante man über 200 Wohnhäuser zu errichten.

Den Plan konnte man erst nach dem Ersten Weltkrieg umsetzen6.

In der Steiner Tabakfabrik gab es 1931 über 1000 Beschäftigte. Am Fabriksgelände standen eine Betriebsküche, eine Badeanstalt, ein Betriebsarzt und eine gut ausgestattete Krankenstation zur Verfügung. Im Betriebskindergarten wurden Kinder bereits ab zwei Monaten betreut7.

Die Tabakarbeiterinnen organisieren sich gewerkschaftlich und zeigen ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit.

Aufmarsch der Tabakarbeiterinnen 1934

Marie Walcher, Tabakarbeiterin aus Krems organisiert sich der Sozialistischen Partei Niederösterreich. In den 20iger Jahren kandidiert sie für den NÖ. Landtag. Sie ist Mitglied des Frauenaktionskomitee, 1925 wird sie in die Landesparteivertretung gewählt und ab 1928 im Landesparteivorstand.

Für das neue Selbstbewusstsein der Tabakarbeiterinnen steht Marie Tusch

Als Zwölfjährige begann sie ihre Arbeit in einer Tabakfabrik. Hier engagierte sie sich für bessere Arbeitsbedingungen sowie für eine Besserstellung der Frauen. Marie Tusch wurde Vertrauensfrau, später Betriebsrätin. Ihre gewerkschaftliche Tätigkeit brachte sie wiederholt in Konflikt mit der Fabriksleitung8
Sie gründete 1910 das Frauenlandeskomitee der SPÖ.Nach der NR-Wahl 1919 zog sie als einzige Nicht-Wienerin und als einzige aus einem Bundesland entsandte Frau in den Nationalrat ein.

Aus Erfahrung als Arbeiterin in der Tabakfabrik wusste sie, dass etwa für 1.300 Beschäftigte nur ein Arzt zuständig war und die Krankenkasse nur verheirateten Frau-en nach der Niederkunft für acht bis zehn Tage Krankengeld gewährte. Ledige Mütter erhielten keinerlei Unterstützung: Sie wurden für die „Sünde“ mit „Hunger im Wochenbett“ bestraft.9

Unsere Gruppe in einem der ehemaligen Räume der Tabakfabrik

Es gibt auch einen persönlichen Bezug zur Tabakernte. Im Innviertel in Hagenau, ein Ortsteil von St. Peter am Hart, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Tabak angebaut. Unten ein Foto mit meiner Mutter (sitzend links), die bei der Tabakernte mithalf.


Quellenverzeichnis

  1. Digitales Archiv der ÖNB, Das interessante Blatt vom 15.7.1886 ↩︎
  2. Das Wort kommt von Exzess ↩︎
  3. Bild der Zigarre aus Wikipedia ↩︎
  4. Arbeiter Zeitung am 1. Oktober 1897 – digitales Archiv der ÖNB ↩︎
  5. Zeitschrift, Loseblatt, ca. 1950, Sammlung E. Blaschitz ↩︎
  6. Ohne Filter – Arbeit und Kultur in der Tabakfabrik Linz, StudienVerlag, Waltraud Kannonier-Finster, Meinrad Ziegler (Hg.), ISBN 978-3-7065-5213-4, Seite 26 ↩︎
  7. Information von einer Ausstellungstafel ↩︎
  8. Bild und Info von geschichtewiki Wien ↩︎
  9. WIR.die FRAUEN der Produktionsgewerkschaft, 2017, Seite 215 ↩︎

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert