Spuren des jüdischen Leben im Scheunenviertel

Einige von uns nahmen den Fußweg vom Brandenburger Tor bis zum Treffpunkt in Kauf. Eine kleine Stärkung in einem ital. Cafe und dann trafen wir unseren Guide Stefan Szollhauser an der Ecke Weydingerstraße/Kleine Alexanderstraße beim “Karl-Liebknecht-Haus”.

„Kein Ostjude geht freiwillig nach Berlin“ schrieb Joseph Roth 1927 und meinte damit die vor der antisemitischen Gewalt in Osteuropa geflohenen Juden, die sich häufig im verarmten Scheunenviertel niederließen1.

Jüdische Migration in Berlin

Diejenigen, die sich auf den Weg nach Berlin machten, kamen in der Regel ursprünglich nicht um zu bleiben. Etliche jüdische Migrant/innen besaßen Durchreisevisa und sahen die Stadt als Durchgangsstation auf ihrem Weg weiter nach Westen. Viele jedoch strandeten hier, vor allem in der Gegend des ehemaligen Scheunenviertels. Im Jahr 1925 lebten 41.465 osteuropäische Jüdinnen und Juden in Berlin.2
Gekommen waren die osteuropäischen Migrant/innen seit den 1880er Jahren und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie waren auf der Flucht vor antisemitischen Pogromen, Zwangsrekrutierungen, russischer Sondergesetzgebung, Bürgerkrieg, bitterer Armut und Perspektivlosigkeit. Ab 1870 setzte eine jüdische Massenflucht aus dem Zarenreich ein. Die dortigen Pogrome waren religiös, sozial und zunehmend rassistisch motiviert, teilw. mit Unterstützung oder gar auf Geheiß des Staates3. Während des Ersten Weltkriegs wurde die jüdische Bevölkerung im besetzten Russisch-Polen mit der Aussicht auf Arbeit in der deutschen Rüstungsindustrie und der Aussicht auf Familiennachzug umworben; 30.000 Menschen folgten diesem Ruf nach Deutschland.

Rote-Spuren – Gruppe auf Spurensuche mit Stefan Szollhauser

Linkes Foto: Grenadierstrasse/Ecke Hirtenstrasse Aufnahme vor 1914
Rechtes Foto: Jüdische Buchhandlung in der Grenadierstrasse4

In der Reichshauptstadt Berlin entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts und besonders mit dem Ersten Weltkrieg verschiedene dichtbesiedelte und in der Zusammensetzung der Bewohner geschlossene Quartiere, von denen das „Scheunenviertel” nördlich des früheren Spandauer Tores, zwischen Rosenthaler Straße und dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz als „Ghetto” der zugewanderten Juden aus Osteuropa galt.5

Ein Viertel aller in Berlin lebenden Juden war 1925 ausländischer Staatsangehörigkeit. Diese stammten überwiegend aus Polen, Rußland und Galizien. Sie unterschieden sich als „Ostjuden” wesentlich von den deutschen Juden. Die Behörden verweigerten ihnen auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt fast immer die deutsche Staatsbürgerschaft. Insgesamt lebten in Großberlin 1925 172.672 Juden, das waren 4,3% aller Einwohner.

Verfolgung durch die Nazis

Joseph und Frieda Baumann wurden im Zug der sog. „Polen-Aktion“ Ende Oktober 1938 zum polnischen Grenzort Bentschen (Zbąszyń) deportiert. Im Rahmen dieser Zwangsmaßnahme versuchte man, mehrere Tausend jüdische Einwohner, die formalrechtlich polnische

Staatsbürger waren, jedoch nicht selten seit Jahrzehnten in Berlin lebten, gewaltsam in das Nachbarland abzuschieben. Da Polen die Ankömmlinge zunächst nicht aufnehmen wollte, mussten viele Deportierte monatelang unter teils unmenschlichen Bedingungen auf dem Grenzstreifen ausharren6.

Mit Stefan Szollhauser wagten wir einen Blick hinter die Fassaden und erkundeten ostjüdische Lebenswelten zwischen Authentizitätsanspruch und Assimilationsdruck, zwischen Solidarität, Illegalisierung und Gewalt bis zur Vernichtung im Nationalsozialismus.


Quellenverzeichnis

  1. Stefan Szollhauser in der Beschreibung des Rundgangs. ↩︎
  2. Lernen aus der Geschichte: Osteuropäische Jüdinnen und Juden in Berlin
    Judentum/Geschichte von Juden*JüdinnenMigration / Flucht nach Deutschland ↩︎
  3. Radtouren-Info, Auswandererbahnhof Ruhleben ↩︎
  4. Eike Geisel, Im Scheunenviertel, Severin und Siedler, 1981 zweite Auflage, ISBN 3-88680-016-4, Seite 86 ff. ↩︎
  5. Ghettos – Vorstufen der Vernichtung, Texte und Unterrichtsvorschläge, Baustein 12 – Das Berliner Scheunenviertel – das „freiwillige” Ghetto, von Barbara Heckel ↩︎
  6. Berliner Stolpersteine ↩︎