Gruppe 40 – Gedenkstätte Spiegelgrund

Der Krieg gegen die “Minderwertigen”
Es herrschte Tötungshoheit in der “Jugendfürsorgeanstalt am Spiegelgrund”, so Waltraud Häupl in ihrer umfassenden Dokumentation über den Anstaltsarzt Heinrich Gross und die “Kinder vom Spiegelgrund”.(3)
Die Überreste von Hunderten Kindern, die in der NS-Zeit in dieser psychiatrischen Anstalt  ermordet worden sind, wurden nach 60 Jahren hier bestattet. Die öffentliche Trauerfeier fand am 28. 4. 2002 am Wiener Zentralfriedhof statt.

Das leitende Personal und die Patientenmorde

Ärztlicher Leiter der Nervenklinik war bis Jänner 1942 Erwin Jekelius, der im Oktober 1940 als einer von 30 Teilnehmern an einer Konferenz über das „Euthanasie“-Gesetz nachgewiesen ist.
Für ein halbes Jahr folgte ihm der an der Aktion T4 maßgeblich beteiligte Hans Bertha.
Mit 1. Juli 1942 übernahm die Leitung Ernst Illing, der zuvor bereits als Oberarzt in der ersten Kinderfachabteilung bei Hans Heinze in der Landesanstalt Brandenburg-Görden tätig war.
Als Leiter des Pavillon 15 fungierte ab November 1940 Heinrich Gross, der ebenfalls bei Hans Heinze ausgebildet wurde und für die meisten Morde verantwortlich war. Ab Juli 1942 gab er eine Hälfte der „Säuglingsabteilung“ an Marianne Türk ab und behielt die Leitung für die andere Hälfte bis Ende März 1943. Zu diesem Zeitpunkt wurde er einberufen, es ist jedoch erwiesen, dass er auch im Sommer 1944 an der Anstalt tätig war. Der nie rechtskräftig verurteilte Arzt verwendete die entnommenen Gehirne der Kinder noch viele Jahre nach dem Krieg für seine „Forschungen“.
Die Oberärztin Margarethe Hübsch gab auf Anordnung ebenfalls tödliche Injektionen an Kinder ab.
Auch Krankenschwestern wie Anna Katschenka mordeten auf Befehl.
Der österreichische Psychoanalytiker Igor Alexander Caruso war im Jahr 1942 als Erzieher und psychologischer Gutachter in der Einrichtung tätig.

Zum Zweck der Einweisung unternahmen die Ärzte des Spiegelgrunds regelrechte Selektionsreisen. Erwin Jekelius berichtete im Sommer 1941 an das Anstaltenamt:

„Hiezu möchte ich bemerken, daß […] gemäß meinem Auftrage, die Sonderanstalten für psychisch abwegige Kinder und Jugendliche zu besuchen und die Pfleglinge dort zu begutachten, eine ganze Reihe von derartigen Untersuchungen durch mich stattgefunden haben. So wurde von mir auch die Anstalt Biedermannsdorf mehrere Male aufgesucht und die nicht dorthin gehörigen Kinder und Jugendlichen zur Verlegung in die für sie zuständigen Sonderanstalten beantragt   – Montag, den 14. ds. beabsichtige ich nach Tatzenbach hinauszufahren, um die dortigen Kranken zu begutachten. […] Montag den 21. ds. ist die Begutachtung von Zöglingen in Eggenburg geplant.“

Ausgewählt wurden die Kinder vor allem nach volkswirtschaftlichen Kriterien. Lautete die Diagnose „bildungsunfähig“, war also kein gesellschaftlicher Nutzen zu erwarten, bedeutete dies zumeist das Todesurteil.

Spiegelgrundbrief

Von den Ärzten, statistisch allen voran Heinrich Gross, gefolgt von Marianne Türk, wurden mindestens 789 Kinder getötet.(1)

Wissenschaftliche Forschungen (Matthias Dahl)
Eine weitere Aufgabe der Wiener Kinderfachabteilung bestand in der Einbindung
in wissenschaftliche Forschungsprojekte. Dabei wurden behinderte
Kinder für medizinische Experimente mißbraucht. In Impfversuchen sollte die
Zuverlässigkeit des BCG-Impfstoffes getestet werden. Durchgeführt wurden
die Experimente von dem Dozenten Dr. Elmar Türk in der Wiener
Universitätskinderklinik. Nach einer Beobachtungszeit überwies er die Kinder
in die Anstalt “Am Spiegelgrund”, wo sie nach einiger Zeit starben und
obduziert wurden. Aus dem Gesamtzusammenhang entsteht der Eindruck, daß
der Tod der Kinder absichtlich erfolgte und Bestandteil der Experimente war. (2)

Totenbuch Spiegelgrund
Im Totenbuch der Wiener Euthanasie-Klinik “Am Spiegelgrund” wurden alle Todesfälle von der Gründung der Anstalt im Juli 1940 bis zum Kriegsende penibel aufgelistet.

Krankengeschichte von Felix Janauschek (1927 bis 1943)
Felix Janauschek bekam mit acht Jahren Kinderlähmung. Am 4. August 1941 wurde er in die Jugendfürsorgeanstalt “Am Spiegelgrund” eingeliefert. (4)

Drei Lebensgeschichten von damaligen Kindern am Spiegelgrund

Leopoldine Maier

„Und der Begriff „unwertes Leben“, das ist mir immer noch im Ohr.“

Geboren 1935 in Wien. Die Mutter hielt den Vater geheim, vermutlich wegen dessen jüdischer Abstammung. 1943 Überstellung auf den Spiegelgrund, wo sie die Mutter nur sehr selten sehen durfte. 1944 konnte die Mutter die Entlassung vom Spiegelgrund durchsetzen, 1945 jedoch erneut Internierung in einer Erziehungsanstalt. Nach 1945 Krankenschwester in Wien. Ein Interview mit Frau Maier

Alois Kaufmann

„Ich war eine Sache, sonst nichts.“

Geboren 1934 in Graz als uneheliches Kind. Die Mutter gab ihn zur Betreuung in ein Kloster, später verschiedene Pflegefamilien in Wien. Von dort aus unbekannten Gründen in die Kinderübernahmsstelle überwiesen und weiter auf den Spiegelgrund, Pavillons 15 und 17. Blieb dort bis zur Befreiung interniert. Nach dem Krieg war Kaufmann in der SPÖ organisiert und setzte sich unermüdlich für die Aufarbeitung der Verbrechen am Spiegelgrund ein. Er ist Autor mehrerer Bücher und Theaterstücke, in denen er seine Erlebnisse verarbeitete. Er lebt heute in Wien. Ein Interview mit Herrn Kaufman

Friedrich Zawrel – Euthanasieopfer “Am Spiegelgrund”

Friedrich Zawrel, Jahrgang 1929, wuchs bei seiner Mutter in Wien in sozial prekären Verhältnissen auf. Infolge einer Delogierung kam er zu Pflegeeltern und später in ein Kinderheim (5). Mehr Informationen
Spiegelgrund-Überlebender Friedrich Zawrel gestorben – Artikel im Standard am 20.2.2015
“Die liebe Republik kann mich gern haben”: Fritz Zawrel ist tot – Falterartikel Fritz Zawrel 9-15

Die Verbrechen nach 1945
Dass die ermordeten Kinder nicht friedlich bestattet, sondern obduzierend ausgeweidet, sogar geköpft und in Gläsern in den Anstaltsregalen verwahrt wurden, um später, in Friedenszeiten, von den zu miesen Forschern mutierenden Ärzten ein letztes Mal missbraucht zu werden, darüber herrschte bis 1979 eine wohlkonstruierte Ahnungslosigkeit, auch wenn es tausende Mitwisser gab.(3)

Die Aufarbeitung nach 1945

Ein ganz normaler Arzt.
Heinrich Gross, HJ-Mitglied, SA-Mitglied und NSDAP-Mitglied, war 1944 Stationsarzt an der Wiener Euthanasieklinik „Am Spiegelgrund”.

Vorerhebungen 1946

Digitales Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wiener Kurier am 16.3.1946, Seite 3

Novembergedenken 2017

Ein Bericht von Claus Michl-Atzmüller in der Zeitschrift der Sozialdemokratische Kämpfer.(Seite 5)
Bei der Gedenkstätte für die Opfer der NS-Justiz und der Kindereuthanasie in der Gruppe 40 sprach die stv. Landesvorsitzende LAbg. Marina Hanke Worte des Gedenkens. Der Anteilnahme an die Greueltaten “Am Spiegelgrund” folgte der Aufruf,

dass unter Schwarz-Blau Gedenkarbeit dringender, denn je sein werde. Nicht Neid, Hass und Hetze, sondern Solidarität und Gemneinschaft müssen bestimmend sein.


Mahnmal für Spiegelgrund-Opfer enthüllt

In Wien erinnert ein neues Mahnmal an die Opfer der NS-Anstalt „Am Spiegelgrund“, in der von den Nationalsozialisten zahlreiche Kinder und Jugendliche ermordet worden sind. Enthüllt wurde dieses am Dienstag am Ort des Geschehens, also auf dem Gelände der nunmehrigen Klinik Penzing. Mehr dazu auf ORF-Wien
20. September 2022, 15.53 Uhr


Inhaltsverzeichnis:

(1) http://de.wikipedia.org/wiki/Am_Spiegelgrund
(2) Die Tötung behinderter Kinder in der Anstalt “Am Spiegelgrund” 1940 bis 1945 – Matthias Dahl
(3) Ein Artikel von Werner Vogt (Die Presse)
(4) https://www.wien.gv.at/kultur/archiv/geschichte/zeugnisse/janauschek.html
(5) Menschenleben