Studienreise Burgenland – 1: Die Rote Armee in Mattersburg

Unser Treffpunkt ist um 08:00 Uhr beim Hauptbahnhof in Wien. Ein netter Fahrer der Firma Felner hat alle Baustellen gut umfahren, und so starten wir um 08:30 Uhr Richtung Mattersburg zum 70-er Haus.

Das 70er-Haus in Mattersburg

Wir werden herzlich von Georg und Irma Luif in ihrem Geschichtehaus, dem 70er-Haus, begrüßt. Kaffee und Süßes als Einstieg in den Vormittag. Eine Hausbesichtigung darf nicht fehlen.
Das „70er Haus der Geschichten“ in Mattersburg öffnet den Blick auf lokale Geschichtsdarstellungen und Interpretationen. Mattersburger Geschicht‘n werden wieder präsent.

Wir wollen das Vergessene wieder sichtbar machen. Die Vielfalt der Geschichten öffnet den Blick in die Zukunft1.
Das 70er Haus ist Informationsstelle, Archiv, Kontakt- und Ansprechort für diejenigen, die die Vergangenheit erforschen und daraus Fragen für die Zukunft stellen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden verbunden.

Die Atmosphäre des Burgenländischen Streckhauses  gibt nicht nur einen Einblick in das Leben einer Mattersburger Familie in den 1930er Jahren, sondern es ist auch eine wohltuende Umgebung zur Beschäftigung mit Geschichte.  Wir von den Roten Spuren sind hier besonders gerne, weil die Themen gut aufbereitet sind und weil auch auf die Mitwirkung der Teilnehmer:innen beim Thema geachtet wird.

Ein herzlicher Dank an Irma und Georg, die uns inhaltlich und kulinarisch gut betreut haben.

Die blühenden Blumen im sonnige Garten gaben den ersten Teil unserer Studienreise einen farbenfrohen Anstrich. Besonders erwähnt auch das fein zubereitete Mittagsbuffet für das leibliche Wohl.
Im Garten starteten wir um ca. 10:00 mit dem Thema.

Georg Luif leitet uns ins das thema ein.

Bevor wir ins Thema einstiegen, gab es noch ein Brainstorming zu den Erwartungen der Teilnehmer:innen.

Sowjetische Besatzung von 1945 – 1955 in Mattersburg

Das Burgenland wurde, zum Großteil nach dem Einmarsch der Roten Armee, für die nächsten Wochen bis zur Einnahme Wiens und der Kapitulation Deutschlands zum Hinterland der Front.

Dies bedeutete für das Land eine kriegsmäßige Besetzung und somit ständige Forderungen nach Ablieferung von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern sowie einen ständigen Durchzug der Truppen2.

Das ehemalige Denkmal zu Ehren der Roten Armee am alten Viehmarkt in Mattersburg3, das nach 1955 abgetragen wurde. Die Rote Armee erreicht Mattersburg am 31. März 1945.

Willi Bauer (geb. 1935) erinnert sich4

Meine Mutter hat gesagt, wir bleiben nicht in der Kitaibelgasse. Da sind der Bahnhof, die Bahnbrücke und die Bahngeleise. Das ist immer für die Militärs ein wichtiges Ziel. Wir flüchten. Wir haben schon wochenlang vorher einen Koffer für meine Schwester, meine Mutter und mich gepackt. Drei Koffer. Die Koffer waren griffbereit. Die Koffer haben wir genommen und sind Richtung Forchtenau entlang der Wulka gegangen. Vor dem Gasthaus Schreinermühle wohnte die Familie Karbicher. Sie haben uns gefragt, wo geht ihr hin? Wir haben gesagt, wir suchen eine Unterkunft. Sie haben gesagt, kommt herein. Das Haus ist zwar bummvoll. Ihr müsst in der Kuehl schlafen. Wir haben das dankend angenommen.

Die deutsche Propaganda hat die deutschen Offiziere immer breitschultrig mit riesigen Orden gezeigt. Die Russen waren schmalschultrig, haben wild ausgeschaut mit Bart. Da hat es geheißen, die Russen vergewaltigen die Frauen, bringen die Kinder um. Wir haben eine echte Angst gehabt. Wir sind beim Karbicher im Keller gesessen. Auf einmal hat es geheißen, die Russen kommen. Es kommen ein paar mit Uniformen und der MP herein: Alles hinaus. Sie haben den Keller wahrscheinlich nach deutschen Soldaten durchsucht.

Dann sind ein paar Kinder von uns zum Panzerwagen hingelaufen; neugierig waren wir ja. Die Russen haben gesagt, sie sollen Geschirr holen. Die Russen haben den Buben kiloweise Kristallzucker gegeben. Sie wollten eine symbolische Freundschaft aufbauen. Da bin ich auch mit einem Reindl hinübergelaufen. Da habe ich zum ersten Mal einem Russen in die Augen gesehen. Da habe ich mir gedacht, die schauen auch nicht anders aus als wir.

Am Bahnhof sind zwei T34 Panzer gestanden. Ausgebrannt. Dann ist dort auch eine deutsche Flak als Panzerabwehrkanone gestanden. Auf der Straße sind Kisten von MG und Karabiner Munition, Flakgeschosse und Handgranaten gelegen.

Am 11. Juni 1945 wird Karl Posch als Bezirkshauptmann in Mattersburg vom NÖ. Landesauschuss installiert. Sein Stellvertreter Dr. Paul Luif nimmt am 1. Juli 1945 seine Tätigkeit auf.5

Bis Ende Juli 1945 ist in Mattersburg noch keine Ortskommandantur der Roten Armee eingerichtet. Die BH fordert deren Errichtung zur Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung und Disziplin. Allerdings wird die Ortskommandantur bereits im Februar 1947 wieder geräumt und damit ziehen alle sowjetischen Soldaten aus Mattersburg ab.
Am 20. April 1945 berichtet der Bgm. von Mattersburg in der GR-Sitzung6, dass ihm der russische Militärkommandant die Bewaffnung von zehn Mann der Polizei zugestanden hat.

Das Postamt in Mattersburg eröffnet am 15. Juni 1945 im Teilbetrieb. Der Postverkehr nach Wien wird aufgenommen. Je nach Zugverbindung kann Briefpost in die Ortschaften bis nach Wulkaprodersdorf oder bis Wien gelangen. Das Telefon funktioniert vorerst nur im Ortsbereich.

Sicherheitsverhältnisse in Mattersburg und Umgebung

Unter den Kampftruppen der Roten Armee selbst kommt es zu wenigen Übergriffen auf die Bevölkerung. Es werden vor allem die Häuser nach Wehrmachtssoldaten und Mitgliedern des Volkssturms durchsucht. Insbesondere in Gemeinden mit heftigen Gefechten wird rigoros vorgegangen.
Die nachfolgenden Truppen bzw. die Versorgungseinheiten quartieren sich in die Häuser ein. Über die Gewalttaten der Soldaten des Trosses gibt es keine schriftlichen Berichte. In mündlichen Erzählungen dominieren Erzählungen über Vergewaltigungen der Frauen.
Es erfolgen Requirierungen von Lebensmitteln, Kraftfahrzeugen und vor allem Futter und Heu für die Pferde, um die sowjetischen Truppen zu versorgen und Transportmittel zu bekommen.
Da es keine Sicherheitsorgane gibt, ist der Willkür freier Lauf gelassen. Oftmals erfolgen Plünderungen unter dem Vorwand der Requirierung für die Truppen. Oder es wird vordergründig die Suche nach Waffen erklärt, was aber vor allem der Plünderung von Schmuck, Wäsche und Bekleidung dient. Spontane Plünderungen erfolgen aber vor allem durch die einheimische Bevölkerung, Zwangsarbeiter, Hilfsfreiwillige der Wehrmacht aus Ungarn und Flüchtlinge (Displaced Persons).

Die Besatzungsbehörden bzw. die Kommandanturen versuchen, durch die rasche Einrichtung der Gemeindeämter, Gendarmerie und der Bezirkshauptmannschaft wieder Ordnung herzustellen.
Marodierende Soldaten und abziehende, vor allem in der Landwirtschaft tätige, Zwangsarbeiterinnen rauben Uhren, Radios und Bekleidung aus den Häusern. Sie rüsten sich für ihre Heimkehr mit Lebensmitteln und Gütern aus. Sie holen sich mit Pferden bespannte Fahrzeuge für die Heimfahrt.
Einige Zwangsarbeiter nehmen Rache an ihren Arbeitgebern. Sie verraten die Verstecke der Bewohner an die sowjetischen Truppen. Aber es sind auch kriminelle Banden aus Österreich, Slowakei und Ungarn, die in sowjetischen Uniformen diese Gewalttaten ausüben.
Die Anzahl der Vergewaltigungen ist schwer einzuschätzen, da die Dunkelziffer hoch ist. Die Berichte aus den Gemeinden sind unterschiedlich. In den Seewinkelgemeinden wie Pamhagen wird nur ein kleiner Prozentsatz an Frauen vergewaltigt. In Wallern wird nur von zwei Frauen berichtet. In Apetlon und Illmitz gibt es keine Berichte über Vergewaltigungen. Der Bürgermeister von Wallern berichtet von acht geschlechtskranken Frauen. Der Amtmann aus Halbturn meldet, dass 62 Frauen sich zur Untersuchung beim Arzt gemeldet haben. Der starke Alkoholkonsum in den Weinbaugemeinden spielt eine wichtige Rolle. Ab Juni 1945 verbessert sich die Lage für Frauen.

Es existieren richtige Banden, die Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände stehlen7.

Hungersnot und Ernährungskrise in Mattersburg

Am 2. September 1945 war der in Mattersburg Bahngasse N.12 wohnhafte Schuhmacher Michael Presch mit seiner Familie in seinen Weingarten. Presch hatte bereits ca. 130 kg. Trauben gelesen. Gegen 10 h kamen 5 Ukrainer mit einen Wagen angefahren, luden die Weintrauben in ihr mitgebrachtes Geschirr und fuhren gegen Mattersburg unter Drohung davon. 30 kg. Weintrauben wurden mit Hilfe des hier stationierten Militärs zustande gebracht, wogegen die übrigen 100 kg. die Ukrainer bereits unter sich verteilt hatten. Über Befehl des russ. Kommdt. mussten die Ukrainer die Weintrauben bezahlen8.

Mitte August 1945 ist noch keine Unterstützung von auswärts eingetroffen. Die Bevölkerung arbeitet nur gegen  Bezahlung in Lebensmittel.
Die Weinlese fällt in Mattersburg 1945 zufriedenstellend aus. Die Ernte der Feldfrüchte ist durch die Trockenheit gering ausgefallen. Im Mattersburger Bezirk werden ab 22. Oktober 1945 Lebensmittelkarten ausgegeben. Ehemalige Zwangsarbeiter:innen haben beim Weg zurück ganze Flächen Kartoffel mitgenommen. Feldschäden, fehlendes Saatgut, Abgaben des Grünfutters an die Besatzungsmacht sorgen für eine schlechte Ernährungssituation der lokalen Bevölkerung. Eine gute Obsternte 1946 sorgt für Entlastung. Im November 1947 wurde erstmals wieder der Mattersburger Viehmarkt abgehalten. Der Viehbestand leidet unter dem Futtermangel.

Schleich- und Schwarzhandel

Man warf den Bauern vor, vor allem den Schwarzmarkt zu beliefern und sich nicht an die vorgeschriebene Kontingentierung zu halten. Schätzungen haben ergeben, dass 15-25 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte irgendwie „unter der Hand“ verschwanden und nicht abgeliefert wurden9.
Der Mangel an Lebensmitteln und die geringe Versorgung mittels Lebensmittelkarten führt zum Tauschhandel und der Umgehung von Ablieferungsverpflichtungen der Bauern. Hamsterer und Rucksackreisende, insbesondere aus dem städtischen Bereich wie Wr. Neustadt und Wien, überschwemmen den Mattersburger Bezirk, um Lebensmittel zu erwerben.
Mattersburg ist nicht Ziel der Schwarzhändler, da der Anteil der Arbeiter:innen im Verhältnis zu den Bauer:innen hoch ist. Die Bevölkerung von Mattersburg ist selbst auf die Besorgung mit Lebensmitteln angewiesen.

Bei der Kontrolle des Frühzuges am Bahnhof Mattersburg wurden am 5.Juli 1946 von 3 Ungarn Lohnti Josef, Szilagyi Janos, Kalapos Stefan sämtliche aus Miskolc, die ohne Bewilligung die Grenze nach Österreich überschritten hatten, 7 kg Zigarettentabak, 28000 Zigaretten, über 900.000 Billionen Pengö, 200, Schilling und 5 Dollar beschlagnahmt. Die 3 Schleichhändler wurden verhaftet und dem Landesgericht in Wien eingeliefert. Bei der Schleichhandelsbekämpfung wurden weiters in der Berichtszeit insgesamt 205 kg Obst, 60 kg Salz, 3 Gänse, 2 Enten, 1 Huhn und 120 kg beschlagnahmt.10

Verhalten der ehemaligen Nationalsozialisten

Der 1938 eingesetzte Bürgermeister war der 1904 geborene, glühende Nazi Franz Giefing. Nach dem Krieg wurde er zu 5 Jahren Kerker verurteilt, aber bald freigelassen. Zudem wurde seine Strafe 1957 – ebenso wie die des Gauleiters Tobias Portschy – durch die NS-Generalamnestie in Österreich getilgt. Letzterer – außerdem von Bundespräsident Theodor Körner begnadigt – lebte im Burgenland nach der NS-Zeit noch als angesehener Bürger des Landes. Er wurde Obmann des Fremdenverkehrsverbands seines Heimatortes Rechnitz und Aufsichtsratspräsident der dortigen Spar- und Kreditbank. Seine Partei: Die FPÖ. Noch 1978 soll sich der ehemalige SS-Oberführer Portschy in einer flammenden Rede „uneingeschränkt zum Führer“ bekannt haben, berichtet Anna Mayer-Benedek11.

In Mattersburg ist die Registrierung der gewesenen Parteimitglieder bis 15.Juni 1945 noch nicht erfolgt. Ehemalige Nationalsozialisten melden sich trotz mehrfacher Aufforderung des Gemeindeamtes nicht. Außerdem sind viele ehemalige Nationalsozialisten noch nicht zurückgekehrt. Im Juni 1946 gibt es in Mattersburg insgesamt 341 registrierte Nationalsozialisten.
In Mattersburg müssen sich die prominenten Nationalsozialisten täglich bei der Gemeinde melden. Durch das Auffinden der Parteilisten sind die ehemaligen Nationalsozialisten in gedrückter Stimmung. Die Bevölkerung erwartet, dass die prominenten Personen „bald hinter Schloss und Riegel gesetzt würden.“
In Mattersburg ist die Registrierung der Nationalsozialisten Mitte August teilweise durchgeführt. Acht führende Parteimitglieder sind zur Verhaftung ausgeschrieben. Zwei von diesen sind bereits zurückgekommen. Sie werden verhaftet und in das Kreisgericht Wiener Neustadt wegen Kriegsverbrechen eingeliefert.

In der Sitzung des provisorischen Gemeinderates vom 27.Mai 1945 wird die Frage erörtert , welchen ehemaligen Nationalsozialisten der Aufenthalt in der Gemeinde verweigert oder gestattet wird. Diesen Beschluss müssen die Gemeinderäte auch gegenüber der Bevölkerung vertreten.

Es wird eine Liste der Familien erstellt, deren Aufenthalt in Mattersburg unerwünscht ist und denen die Lebensmittelzuteilung verweigert wird. Es wird ihnen schriftlich empfohlen, die Gemeinde Mattersburg ehestens zu verlassen12.

Am 6.Feber 1946 werden Karl Oberndorfer, Schuldirektor in Mattersburg, Leo Schwarz, Eisenhändler in Mattersburg und Johann Schandl, Landwirt aus Walbersdorf wegen Übertretung des Kriegsverbrechergesetzes dem Landesgericht in Wien eingeliefert.

Danke an Georg und Irma Luif für die tolle inhaltliche und organisatorische Betreuung.


Quellenverzeichnis

  1. Beschreibung zum 70er Haus von der Homepage ↩︎
  2. OEAD erinnern.at – Kriegsende und Befreiung im Burgenland ↩︎
  3. Fotoquelle: Archiv des Verteidigungsmuseum der Russischen Förderation. ↩︎
  4. Broschüre „Sowjetische Besatzung von 1945-1955 in Mattersburg“ von Georg Luif, Anna Benedek, Johann Docekal, 2024, Seite 5S ↩︎
  5. ÖNB, digitales Archiv, Burgenländisches Volksblatt am Sa, 15. September 1951, Seite 2 ↩︎
  6. Bgm = Bürgermeister und GR = Gemeinderat ↩︎
  7. ÖNB, digitales Archiv – Österreichische Zeitung am 27. Juni 1946, Seite 4 ↩︎
  8. Situationsbericht Gendarmerie Mattersburg in der Broschüre Sowjetische Besatzung (g. Luif…) ↩︎
  9.  Die Presse am 2. Mai 2025 ↩︎
  10. Broschüre „Sowjetische Besatzung von 1945-1955 in Mattersburg“ von Georg Luif, Anna Benedek, Johann Docekal, 2024, Seite 46 ↩︎
  11. Als die Geschäfte in Mattersburg Sonntags noch offen hatten – By Sebastian Reinfeldt am
    5. September 2016 ↩︎
  12. Broschüre „Sowjetische Besatzung von 1945-1955 in Mattersburg“ von Georg Luif, Anna Benedek, Johann Docekal, 2024, Seite 60 ff ↩︎

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