Geschichte gerecht (be)schreiben

Brigitte und ich nehmen am kommenden Momentum Kongress in Ossiach teil. Wir habe nuns zum “Track #6: Geschichte gerecht (be)schreiben” angemeldet. Folgende Kapitel sollen bei diesem Track abgearbeitet werden:

  • Was macht emanzipatorische Geschichtsschreibung aus? Welche Rolle spielt Geschichte in und für die Gegenwart?
  • Wie lässt sich eine Geschichte der Vielen den Vielen zugänglich machen?
  • Wo – und wie – verändert Geschichte im öffentlichen Raum das allgemeine Bewusstsein?

Dank der Mithilfe einiger Kolleg:innen aus dem Vorstand und der Rechnungsprüfer haben wir nun diesen Text eingereicht.


Der Verein „Rote Spuren – Verein zur Förderung der Arbeiter:innengeschichte“ wurde Ende November 2018 gegründet. Der inhaltliche Schwerpunkt unserer Arbeit liegt in der Geschichte jener Menschen, die nicht in den Geschichtsbüchern vorkommen – den Arbeitnehmer:innen, den Verfolgten, den Obdachlosen, den Vertriebenen und der Opfer. Wir wollen mit unseren Rundgängen, den Erfahrungen und Erlebnissen der Arbeiter:innen, sowie unseren Veranstaltungen Menschen gewinnen, sie motivieren, sich an dieser Geschichtsschreibung zu beteiligen.

Das Engagement der Personen dieses Vereins resultiert großteils aus einer langjährigen gewerkschaftlichen Bildungstätigkeit.

Persönliche Motivationen

Unsere ersten Erfahrungen mit Geschichte wurden dominiert durch die Lernerfahrungen in der Schule, den dabei verwendeten Geschichtsbüchern und den Denkmälern, die uns umgeben. Angebotene Filme produzierten oftmals ein heroisches Bild von Eroberern oder Regent: innen entsprechend dem vermittelten Geschichtsbild in der Schule und der bürgerlichen Gesellschaft.

Oft wird auch in der eigenen Familie über deren Geschichte nicht gesprochen oder danach gefragt. Und wenn, dann erst, wenn betroffene Personen nicht mehr leben. Die Überlebenden kennen teilweise nur Fragmente der eigenen Familiengeschichte. Dennoch ist es wichtig, die (eigene) Geschichte zu kennen, um daraus zu lernen, einiges verstehen zu können und um Klarheit zu haben, weshalb und wie Menschen agieren bzw. agiert haben.

So wie Wilhelmine Goldmann schreibt: “Die Geschichte meiner Familie, die eng mit der Geschichte unseres Landes verwoben ist, umfasst das zwanzigste Jahrhundert von der Endphase der Monarchie bis in die Gegenwart. Unsere Lebensgeschichten können in größeren Zusammenhängen als Geschichte der Proletarisierung und der Entproletarisierung der österreichischen Arbeiterklasse gelesen werden. Oder als Beispiel für den Aufstieg der österreichischen Arbeiter:innen aus proletarischem Elend zu Bildung und Wohlstand.1

Das Betrachten der Geschichte von sich selbst, von Eltern und Großeltern waren die ersten Schritte zu einem anderen Geschichtsbewusstsein. Wir halten uns an den Vorschlag von Victor Adler im Gumpendorfer Arbeiterbildungsverein:

„Wir verlangen von euch keinerlei Art von Orthographie, wir verlangen von euch nichts als Selbsterkenntnis. Darüber nachzudenken, was aus euch geworden ist und was aus euch werden soll, das nenne ich Bildung. Und auf eine noch höhere Stufe der Bildung gelangt Ihr, wenn einmal die Erkenntnis den Willen geweckt hat, wenn aus dem Bewusstsein, Produkte der Gesellschaft zu sein, das bewusste Streben erwächst, ihre Herren und Frauen, ihre Former:innen und Lenker:innen zu werden.“

Werner erinnert sich: „Meine Großmutter väterlicherseits verstarb kurz nach der Geburt des zwölften Kindes 1940. Sie stammte aus einer Familie mit 27 Kindern. Mein Vater und seine Geschwister wurden, wie es in ländlichen Gemeinden üblich war, an Pflegefamilien übergeben, denn ihre Eltern, der Vater war Tagelöhner und die Mutter war beschäftigungslos, konnten nicht alle Kinder versorgen und vor allem nicht ernähren. Mein Vater war ab dem 18. Lebensjahr Industriearbeiter, wo er mit besonders giftiger (Chlorgas) und körperlich schwerer Arbeit als Gießereiarbeiter den Lebensunterhalt für uns vier Kinder sicherte. Da wir sehr sanierungsbedürftige Wohnbedingungen in einem Auszugshaus der Großeltern mütterlicherseits hatten, nahm er auch zusätzliche Jobs neben seiner Schichtarbeit an. Er starb bereits im 45. Lebensjahr. Meine Mutter als ehemalige Verkäuferin, die ihre Arbeitsstelle und Beruf wegen der Versorgung von uns Kindern aufgab, musste nun als Hilfsarbeiterin für den Lebensunterhalt der zwei jüngsten Kinder sorgen.

Ich selbst war ab dem 8. Lebensjahr in der katholischen Jungschar und Jugend aktiv. Ein engagierter ehemaliger Jugendseelsorger kümmerte sich dort um aktive Jugendarbeit. Dank ihm war es mir als Arbeiterkind möglich, in den Ferien auf Zeltlager und Kurse der Jungschar zu fahren. In dieser Zeit kam ich auch erstmals mit Ereignissen in Berührung, von denen ich in der Schule, im Unterrichtsfach Geschichte, nichts gehört hatte. So z.B. die Erlebnisse des Pater Maximilian Kolbe, der in Auschwitz hingerichtet wurde, oder die Ereignisse um Nelson Mandela im Apartheid-Regime in Südafrika. Diese Ereignisse lösten erste geschichtliche Fragen in mir aus.

Auch meine Funktion als Jugendvertrauensrat in einem Metallbetrieb und Gewerkschaftsjugendaktivist brachten mir erstmals ganz andere Einblicke in unsere Geschichte.“

Erste Erfahrungen einer anderen Betrachtung von Geschichte

In der Schule wird von Göttern, Kaiser:innen, König:innen, Machthaber:innen gelehrt. Doch wo bleiben Arbeiter:innen, Bauern, Knechte und Mägde, Schuster? Bert Brecht schrieb schon in den “Fragen eines lesenden Arbeiters“:

„Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Und das mehrmals zerstörte Babylon Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war die Maurer? Das große Rom Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang, die Ersaufenden nach ihren Sklaven. Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte untergegangen war. Weinte sonst niemand? Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer siegte außer ihm? Jede Seite ein Sieg. Wer kochte den Siegesschmaus? Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen? So viele Berichte. So viele Fragen.2

Bei Seminaren und Aktionen der ÖGJ bekamen und befassten wir uns mit Büchern von Bernt Engelmann. Er schrieb die Bücher „Wir Untertanen“ und „Einig gegen Recht und Freiheit“. Er nannte sie „Antideutsche Geschichtsbücher“. Ein Besuch mit 50 Lehrlingen und ÖGJ-Mitgliedern in der Gedenkstätte Mauthausen anlässlich der Befreiungsfeier löste weitere Diskussionen über Faschismus und Nationalsozialismus aus. In unserer Schulzeit wurde Faschismus und Nationalsozialismus nicht behandelt. Das Buch von Hans Hautmann

und Rudolf Kropf – „Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945“ entfachte ebenfalls unsere Neugier für Geschichte.

Vor allem der Zugang, einen Zusammenhang zwischen unserer Geschichte und den damit verbundenen uns betreffenden ökonomischen Gegebenheiten herzustellen, interessierte uns immer mehr. Wie waren die Lohnverhältnisse, der Lebensstandard, die Ernährungs- und Beschäftigungsverhältnisse, oder die Vermögensverteilung in der Zeit meiner Vorfahren?

Geschichte als Kampffeld aktueller politischer Auseinandersetzung. Unsere Geschichte ist geprägt von Unterdrückung, Kampf, Aufstand und Widerspruch.

Fehlt aber das Interesse an und das Wissen über geschichtliche Ereignisse, fehlt auch die dazugehörige Nachdenklichkeit. Und für die politische Gestaltung immer mehr das Fundament.3

Wo es Herrschende gibt, gibt es Unterdrückte, Sklav:innen oder Menschen, die keine politischen und wirtschaftlichen Mitbestimmungsrechte haben. Wir wollen keinTeil einer Geschichtsschreibung sein, die von den „Herrschenden“ geschrieben wird und die damit bis heute ihre Machtpositionen im Kapitalismus legitimieren. Wir richten unseren Geschichtsblick auf jene Menschen, die beherrscht wurden, unterdrückt und rechtlos waren. Hier beginnt das „Kampffeld“ in der Geschichte. Denn dieser Blick ist politisch, je nachdem wo man steht. Während in der Schule von Kriegsherren, Habsburgern und sonstigen Potentaten berichtet wird, wird wenig über die tausenden Opfer, Millionen Toten und Kriegsverbrechen gesagt.

Was erzählen wir über jene Menschen, die nach Wien kamen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben als Dienstmädchen oder Ziegelarbeiter:innen? Wie verlaufen die Geschichten jener Menschen, die aus allen Teilen der Monarchie wegen ihrer wirtschaftlichen Nöte nach Wien flüchteten? Wie ist die Geschichte jener Menschen, die von den Habsburgern und ihren adeligen Helfershelfern zwangsumgesiedelt wurden, die als Soldaten in unnötigen Kriegen im Dreck verrecken mussten? Wie verlief das Leben und der Tod von Widerstandskämpfer:innen, die von den Nazis verfolgt und hingerichtet wurden? Letzendlich steht dahinter die Frage: WEM gehört die Geschichte?

Kirche, Adel und Kapitalismus verteidigten in unserer bisherigen Geschichte ihre Herrschaftssysteme mit Gewalt. Demokratisches Denken war und ist weltweit gesehen lebensgefährlich. Gerade als Gewerkschafter:innen sehen wir im Kapitalismus am Beispiel der industriellen Produktionssysteme die damit verbundenen Gewalt- und Eigentumsbeziehungen.4

Arbeiter:innengeschichte muss aus unserer Sicht deutlich und konsequent auf verschiedene Widerstandsformen, die zur Demokratisierung der Gesellschaft und zur Durchsetzung von Arbeiter:innen-Interessen bzw. der eigenen Klasseninteressen geführt haben, hinzeigen. Die damit verbundenen Erfahrungen, Erfolge und Niederlagen bedeuten eine „gesellschaftliche Bringschuld“ von uns an die kommenden Generationen. Die teilweise Unterlassung dieser Aufgabe auch in der gewerkschaftlichen Arbeitnehmer:innen-Bildung bedeutet, die damit verbundenen Erfahrungen der Geschichte den bürgerlichen Fallstricken

(z.B. geteilte Schuld am Februar 1934) der Geschichtsdeutung zu opfern und damit großteils die politische Relevanz dieser Erfahrungen aufzugeben.

Unsere Ansprüche an eine Geschichte von Unten

Otto Glöckel meinte bei seinem Antritt als Unterstaatssekretär für Unterricht 1919 – “Wir brauchen Demokraten und keine Untertanen.” Aber wie werden aus Untertanen selbstständige, sich in gesellschaftliche Demokratieprozesse einbringende Menschen? Oder wie Wilhelm Liebknecht 1872 sagte: „Arbeiterbildung sollte zum besseren Verständnis der eigenen gesellschaftlichen (Klassen-) Position beitragen und den solidarischen Weg in eine bessere Gesellschaft weisen”.5 Was kann Geschichte dazu beitragen?

Geschichtliches Lernen und Agieren muss durch die aktiven Köpfe der Handelnden führen und niemand kann für einen anderen lernen.6 Wenn jemand etwas lernen will, muss er/sie es selbst tun. Ein Beispiel, das uns immer als Gewerkschafter:innen begleitete, ist die Frage der Solidarität. Sie ist nicht theoretisch erlernbar, sondern man muss es selbst tun oder an solidarischen Prozessen beteiligt gewesen sein.

„Grabe, wo du stehst“ – unter diesem Motto gründeten sich seit den späten 1970er-Jahren in Westeuropa und den USA zahllose sogenannte Geschichtswerkstätten. Ursprünglich handelte es sich um den Titel eines „Handbuches zur Erforschung der eigenen Geschichte7.“ Darin rief Sven Lindqvist, schwedischer Schriftsteller und Literaturhistoriker (1932-2019), schwedische Arbeiter:innen dazu auf, die Geschichte ihrer eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen zu erforschen. Die historische Deutungsmacht sollte nicht den Unternehmer:innen überlassen, sondern von den Arbeiter:innen selbst übernommen werden.

Im Rückblick kann diese Geschichtsbewegung als „historischer Arm“ der neuen sozialen Bewegungen verstanden werden, denen es darum ging, Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft und insbesondere des direkten sozialräumlichen Umfeldes zu nehmen. Im Zeichen einer „Mitwirkung und Selbstermächtigung in der Demokratie“ ist es auch notwendig, dass wir uns die Geschichte aneignen. Darunter verstehen wir, einen gemeinsamen Arbeits- und Lernprozess von vielen, der gemeinsam erarbeitet und öffentlich zur Debatte gestellt werden soll. Mit Ausstellungen, Stadtrundgängen, Fahrradfahrten und aktionistischen Interventionen sollte dabei auch immer in aktuelle gesellschaftliche Diskurse eingegriffen werden.8

Unseres Erachtens nach braucht es in der Geschichtsdebatte mehr Provokation, um historische Traditionen in Frage zu stellen. Die Diskussionen um das Lueger-Denkmal sind ein gutes Beispiel dafür. Dieses Nachdenken über die Funktionen von Geschichte im öffentlichen Raum geht natürlich auch der Frage nach den Machtverhältnissen beim Zustandekommen des Denkmals, der Inschrift oder Erinnerungstafel nach. Es müssen neue politische Dynamiken von gesellschaftlichem Erinnern und Vergessen aktiviert werden. Wir wollen Teil dieser neuen Geschichtsbewegung sein und dabei mithelfen, dass Geschichte auch von den „kleinen Leuten“ gemacht wird. Sie sollen sich als historische Subjekte entdecken, die „Geschichte machen“ können. Und zwar im doppelten Sinne, als Autor:innen ihrer eigenen Geschichtsschreibung und als historische Akteur:innen, die aus

ihrer Geschichte heraus auch die Gegenwart und Zukunft gemäß ihren politischen Interessen gestalten können. Die gemeinsame Geschichtsforschung sollte in den räumlich-gesellschaftlichen Zusammenhängen stattfinden, in welche die Akteur:innen konkret eingebunden sind.

Nur, wer sich als historisches Subjekt begreift, und damit auch als Mitgestalter:in der eigenen Geschichte, wird im eigenen Interesse an demokratischen Prozessen partizipieren. Über das historische Forschen und Lernen hinaus geht es hier also immer auch um politische Selbsterfahrung und demokratische Selbstwirksamkeit.

Räume und Orte der Geschichte

Uns ist bewusst, dass Zeitzeug:innen größtenteils nicht mehr am Leben sind, sichtbare historische Zeichen verschwinden, gar nicht oder nur wenige existieren (z.B. kritische Zeichen zu den Habsburgern oder die wenigen zum Austrofaschismus) und auch die Bedeutung den Einwohner:innen gar nicht bewusst ist. So waren wir beim Besuch der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Flossenbürg überrascht, dass eine Wohnsiedlung auf dem ehemaligen Lagergelände errichtet wurde. In der Ausstellung der Gedenkstätte wird aufgezeigt, dass einige Personen, erst nach 1995 erfuhren, auf welch geschichtsträchtigem Boden sie leben (erst 1995 wurde mit dem Aufbau dieser Gedenkstätte begonnen).

Gerade deshalb ist es uns wichtig, Orte und Räume aufzusuchen, wo Geschichte stattgefunden hat. Die Teilnehmer:innen sollen erfahren, dass hunderte Widerstandskämpfer:innen, die von den Nazis ermordet wurden, in den Nachtstunden heimlich verscharrt wurden. Sie sollen bei der Kaisermutter Maria Theresia am Denkmal erfahren, dass sie Schwangerschaftsabbruch unter Todesstrafe stellte und Frauen nackt am Stephanplatz von einem Jesuiten, dem Leiter der Keuschheitskommission, auspeitschen ließ.

Auf jeden Fall geht es darum, dass «Geschichte», Revolutionen und Aufstände nicht nur an Orten stattgefunden hat, wo es jetzt Museen und Gedenkstätten gibt, sondern überall, mitten unter uns. Am Platz bei der Mölkerbastei in Wien haben in den Adventtagen 1869 20.000 Arbeiter:innen für die Legalisierung von Gewerkschaften demonstriert. Die Anführer wurden in einem Hochverratsprozess verurteilt, aber ein paar Monate später frei gelassen und das Koalitionsrecht wurde beschlossen. Der Druck von der Straße war zu groß.

Es ist wichtig, dass Geschichte nicht nur in Büchern oder auf Internetseiten steht. Es geht um die Verörtlichung der Ereignisse. Und die Orte sagen auch etwas über den Stellenwert der Ereignisse und Personen aus. Sie laden aufgrund ihrer Gestaltung zu Diskussion und Auseinandersetzung ein. So eine Diskussion gibt es beispielsweise in Wien beim Johanna-Dohnal-Platz im 6. Bezirk. Für Teilnehmer:innen bei unseren Rundgängen  ist dieser unscheinbare Platz eine Schande für die großartigen Leistungen, die diese Frau und Politikerin für die Gleichberechtigung der Frauen und die Entwicklungshilfe geleistet hat. Die gleiche Diskussion gibt es im Wiener Volksgarten beim winzigen Denkmal über den ersten Demokratischen Wiener Frauenverein.

Das öffentliche Erinnern soll vor allem dazu anregen, politische Fehler nicht mehr zu wiederholen. Dafür braucht es historisches Wissen.

Personen, Persönlichkeiten und Akteur:innen in der Geschichte

Neben den Orten des Geschichtsgeschehens braucht es auch Persönlichkeiten, die Orientierung und glaubwürdig gelebte Handlungen und Haltungen darstellen.  Aufgrund der Dominanz männlicher Akteure, auch in der Geschichtsschreibung von Gewerkschaften und

linken Parteien, ist es für uns wichtig, auch Vertreterinnen der Frauenbewegungen zu Wort kommen zu lassen. Auch haben nicht nur die führenden Akteure in der Arbeiter:innenbewegung Geschichte gemacht, sondern auch Menschen, die bei Demonstrationen mitgegangen sind, im Widerstand waren und jene, die das Leben inmitten von bedeutenden Ereignissen, wie den Februar 1934, katapulierte.9 Gerade solche Personen bieten den Teilnehmer:innen die Möglichkeit eine Brücke zum eigenen Leben zu schlagen.

Von Hedy Urach, einer Schneiderin und späteren Widerstandskämpferin, welche mit 33 Jahren von den Nationalsozialisten im Wiener Landesgericht enthauptet wurde, haben wahrscheinlich wenige Menschen gehört.10

Rosa Jochmann, ebenfalls Widerstandskämpferin, ist vermutlich schon mehreren Menschen bekannt. Aufgrund des Todes ihrer Mutter musste sie schon mit 14 Jahren für ihre fünf Geschwister und ihren Vater sorgen und Lohnarbeit annehmen. Im Betrieb setzte sie sich für ihre Kolleg:innen ein und wurde bereits mit 19 Jahren Betriebsrätin. Als Widerstandskämpferin wurde sie von den Nationalsozialisten mehrmals verhaftet und ins KZ-Ravensbrück gebracht.
Als Teilnehmer:innen der Gewerkschaftsschule OÖ wollten wir Rosa Jochmann 1987 zu einem persönlichen Gespräch einladen. Doch sie musste absagen, da sie schon damals schwer herzkrank war. In einem Brief an uns beschrieb sie die Situation im Konzentrationslager. Besonders die Stelle, wo sie schreibt, dass sie vier Monate in einem dunklen Keller auf dem Boden schlafen musste, keine Schuhe hatte, wenig bis gar nichts zu essen bekam und wenn, dann Wasser und Brot – erschütterte uns alle.
In dem Buch «Rosa Jochmann – Zeitzeugin» von Maria Sporrer und Herbert Steiner11, beschreibt sie auch ihre politische Tätigkeit und ihre Erfahrungen als Nationalratsabgeordnete im Parlament. Darin sagt sie u.a. „Die Menschen liebe ich über alles“, – trotz allem, was ihr widerfahren war. Eine große Frau, die uns unter anderem angespornt hat, uns mehr mit unserer Geschichte zu befassen.

Die Diskussionen über die Faschisten Dollfuß und Schuschnigg innerhalb der ÖVP zeigt deutlich, wie schwer sich bürgerliche Parteien mit ihrer eigenen unangenehmen Geschichte tun. Von der Heldenverehrung in einem eigenen Museum bis hin zur Anerkennung, dass sie Verantwortliche der Ausschaltung des Parlaments und demokratischer Einrichtungen waren, ist es ein schwieriger Weg, der nur unter öffentlichem Druck zustande kommt. Dennoch war am 4. März 2023, als sich dieses unselige Ereignis zum 90. Mal jährte, eine gemeinsame Gedenkveranstaltung im Parlament nicht möglich, vielleicht nicht einmal angedacht. Derartiges Gedenken bleibt anderen überlassen, das offizielle Österreich befasst sich damit nicht.

Mitbestimmug und Mitwirkung beim „Erforschen“ unserer Geschichte ist lebendige Demokratie

Erwin Wagenhofer sagte in seinen Überlegungen zum Film

„Wie ernähren wir uns geistig?“ „Und schnell wurde mir klar, dass es darin nicht nur um Bildung gehen wird, sondern vor allem um Haltung! Haltung ist etwas, das man nicht unterrichten, sondern nur vorleben kann, und Bildung ist etwas, das man nicht erzwingen, nicht machen kann, sondern das zur Verfügung gestellt werden sollte wie der üppige und unerschöpfliche Speisezettel des Lebens.

Die Idee zu diesem Film und dem Buch „alphabet“ war, von einem nicht mehr tauglichen Ist-Zustand abgehen, die Zuschauer:innen und Leser:innen auf eine Reise einzuladen, mit dem Ziel, in Bewegung zu kommen, um selbst die ersten Schritte zu tun.

Leben meint Bewegung. Demokratie meint so viele wie nur möglich. Die Verantwortung für die Folgen unseres Tuns zu übernehmen, meint uns alle.12

In der Tradition der Arbeiterbildungsvereine greifen wir zurück auf das bereits erwähnte schwedische Modell „Grabe, wo du stehst“. Wie die schwedischen Geschichtswerkstätten versuchen wir, unsere Mitglieder und Aktivist:innen in die Erforschung und Deutung der Geschichte aus ihrer Sicht einzubeziehen.

Eine wichtige Handlungsgrundlage für das Wirken im Verein basiert auf dem  gewerkschaftlichen Organisationsmodell. Es bedeutet, dass wir MIT den Menschen unsere geschichtlichen Vorhaben umsetzen. Wir sind kein Reisebüro, wo man Rundgänge bucht. Jeder Rundgang, auch zum selben Thema ist ein Unikat, weil die Teilnehmer:innen ihn mitprägen. Bei unserem Habsburg-Rundgang bilden wir mit den Teilnehmer:innen eine SOKO (Sonderkommission), die am Ende darüber diskutiert, ob die Habsburger „Verbrechen gegen die Menschheit“ begangen haben.

Bei der Entwicklung von Rundgängen versuchen wir zu den jeweiligen Stationen die Geschichte aus Sicht der Rechtlosen, der Arbeiter:innen, der Migrant:innen, der Frauen, der wegen ihrer sexuellen Orientierung Verfolgten, den Vertriebenen, den Flüchtenden bis hin zu den Minderheiten in Europa, zu betrachten.

Uns ist dabei wichtig, dass die Beteiligten an diesem Entwicklungsprozess und die Gruppe mit dem Blickwinkel aus der Sicht der Beherrschten, eine eigene geschichtliche Deutungshoheit entwickelt. Wir lassen Betriebsrät:innen von ihren Streikerfahrungen sprechen oder treffen uns mit Angehörigen von Minderheiten wie den Rom:nija, die jahrhundertelange Verfolgung und Unterdrückung erleiden mussten. Das machen wir, um diese Geschichte(n) nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Den Menschen soll klar werden, dass es auch historische Wurzeln gibt, die die heutigen Vermögensverhältnisse geschaffen haben. Wenn heute 335 Familien ein Drittel des Finanzvermögens in Österreich besitzen und jede dieser Familien besitzt mehr als 100 Millionen Dollar13, so ist das mehr als ungerecht und Gift für die Demokratie. Dies wollen wir aufzeigen und bei unseren Aktivitäten zum Nachdenken anregen.

Vor allem in Anspielung auf das eingangs erwähnte Zitat von Otto Glöckel – wir brauchen Menschen, die Neugier, Forscherdrang und Kreativität besitzen. Das Motto der GPA-Bildungsabteilung ist dafür passend: Bildet euch – bewegt euch – organisiert euch.

Welche Rolle nimmt Geschichte für die Gegenwart ein?

Die Schnelligkeit von gesellschaftspolitischen und technologischen Entwicklungen schluckt gemachte Erfahrungen und Beobachtungen. In einer Zeit der „Fast-Food-Nachrichten“ geraten wichtige historische Ereignisse in Vergessenheit.14 Heutige Rechtspopulisten

verfolgen dieselben Strategien der Ausgrenzung, des gegeneinander Ausspielens wie die Nazis vor 90 Jahren und bürgerliche Parteien sind wieder ihre inhaltlichen und personellen Steigbügelhalter.

Wir befinden uns derzeit in einer Art gesellschaftlichen Zwielichts wie Naomi Wolf in ihrem Buch zur Zerstörung der Demokratie schreibt. Genau wie die Nacht nicht plötzlich hereinbricht, kommt auch die Unterdrückung nicht schlagartig. Und in dem Zwielicht – in Form von rechtspopulistischen Tendenzen und Strategien, die Unterdrückung, die Ausgrenzung und veraltete Rollenbilder wieder zum Alltag machen wollen – braucht es geschichtsbewusste Demokrat:innen. Es gilt, mit höchster Aufmerksamkeit auf diese Veränderungen zu achten, so klein sie auch sein mögen. Anderenfalls riskieren wir, zu ahnungslosen Opfern der Dunkelheit zu werden.Da sich diese autoritären Tendenzen in unseren Gesellschaften verbreiten, drücken sie sich auch in unserer Geschichtskultur aus. Darum braucht es eine Demokratisierung des Erinnerns. Blickt man auf die Entwicklungen der letzten Jahre, so leben wir in einer konkurrenzorientierten Gesellschaft. Individualisierung erweist sich als gesellschaftlicher Zwang. Beispielsweise Ich-AGs und Scheinselbständigkeit. Ein sich rasch wechselndes Umfeld erfordert unsere ständige Aufmerksamkeit und Flexibilität.15 Wir bewegen uns und wir werden bewegt. Unsere Mobilität ist geographisch und mental gefragt. Wir leben in einer Welt voller Ungleichheit. Die Unterschiede zwischen den Armen und Reichen sind so enorm wie noch nie. Arbeitnehmer:innenorganisationen sprechen von Kund:innen und nicht mehr von Mitgliedern. Service steht im Vordergrund und weniger Organisationsmacht. Es wird FÜR die Menschen gearbeitet und und nicht MIT ihnen.

Wie begegnen wir diesen Veränderungen in der Gesellschaft? Dem Bildungssektor kommt in der Wissensgesellschaft eine besondere Bedeutung zu.16 Es braucht eine antizyklische Bildungspolitik und es braucht einen anderen Stellenwert von Gewerkschaftsgeschichte bei den Bildungsmaßnahmen der Gewerkschaften. Auch hier ist der Trend bemerkbar, immer mehr rechtliches, wirtschaftliches Wissen zu vermitteln. Der/die einzelne Betriebsrät:in oder Personalvertreter:in will rechtlich mit gesetzlichen Normen und Paragrafen im Betrieb punkten und so bei Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern die Interessen der Arbeitnehmer:innen durchsetzen.

Was ist dabei zu beobachten? Bei krisenhaften, wirtschaftlichen Entwicklungen wird von Unternehmerseite immer die Arbeitsplatzkarte „gezückt“ und es werden Regelungen vereinbart, wo oftmals mehrere Normen dagegensprechen, die für die Arbeitnehmer:innen unvorteilhaft sind. Aber viel entscheidender und schmerzvoller ist die damit verbundene Entpolitisierung der Belegschaften. Maximal bei Drohgebärden rund um Kollektivvertragsverhandlungen sind Mitglieder gefragt. Einer dieser Chefverhandler bei diesen Verhandlungen sagte einmal ziemlich deutlich, die meisten Mitglieder gewinnen wir, wenn wir streiken. Hier wird den Kolleg:innen klar, dass ihre Organisationsmacht notwendig ist. Es braucht eine Qualifizierung der Betriebsrät:innen und Gewerkschaftsfunktionär:innen, wie Organisationsmacht und politische Bildung von Belegschaften zu bewerkstelligen ist. Und hier kommen die Erfahrungen der Geschichte ins Spiel. Was können wir von vergangenen Kämpfen, Revolutionen und Niederlagen lernen? Welche neuen politischen Strategien, die bereits früher bei den Arbeiterräten angedacht wurden, sind heute eventuell notwendig, wenn wir die Daseinseinsvorsorge den gewinnorientierten Interessen des Privatkapitals entziehen wollen? Wie sind unsere geschichtlichen Erfahrungen mit Verstaatlichung und Vergesellschaftung? Gerade in der Gesundheitspoltik ist es dringend notwendig, die Eigentumsfrage zu stellen.

Nun aber wieder zurück zum Verein Rote Spuren mit seinen etwas mehr als 100 Mitgliedern. Hier treffen sich die Interessen des Vereins mit gewerkschaftlichen Bildungsinteressen. Es nutzt nichts, wenn der/die Betriebsrät:in sich mit Arbeitszeitregelungen gut auskennt und die relevanten Paragraphen im Arbeitsverfassungsgesetz dazu kennt, aber ihre/seine Kenntnisse im Betrieb mit den Kolleg:innen nicht umsetzen kann. Ähnlich ist es mit dem Wissen über geschichtliche Ereignisse, die wir gemeinsam zur Sprache bringen. Das Engagement im Verein Rote Spuren mit unserer Herangehensweise zur Geschichte bedeutet für uns die Handlungsfähigkeit und -bereitschaft (weiter) zu entwicklen. Es ist immer eine spannende Frage für die Teilnehmer:innen bei der Gruppe 40 am Zentralfriedhof, wo Gestapo-Opfer in Schachtgräbern verscharrt wurden: „Was sagen wir unseren Bekannten, Kindern und Freund:innen zu diesem Ereignis? Was kann ich persönlich tun, damit sich diese Ereignisse nicht wiederholen?“ Wir versuchen dabei, die Teilnehmer:innen zum Widerspruch, zum Mitwirken, sich Einmischen zu aktivieren, um für ein gerechtes und gutes Leben in der Zukunft zu kämpfen und sich dafür einzusetzen. Diese Herangehensweise, Geschichte zu erleben, bringt auch unangenehme Wahrheiten über das Agieren von Personen und Organisationen zu Tage. Aber gerade die differenzierte Betrachtung der Ereignisse ist der Nährboden für das zukünftige Lernen.

Die Gegenwart ist immer nur die Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wir alle haben Verantwortung für unser heutiges (Nicht-)handeln. Spätere Generationen sollen nicht wieder fragen müssen: warum habt Ihr nichts dagegen getan?


Quellenverzeichnis

  1. Wilhelmine Goldmann, Rote Banditen – Geschichte einer sozialdemokratischen Familie, 2023 Promedia, ISBN 978-85371-523-9 ↩︎
  2. Die Fragen eines lesenden Arbeiters, (Werkausgabe Edition Suhrkamp, Frankfurt/Main 1967, Auflage 1990) ↩︎
  3. Wilhelmine Goldmann, Rote Banditen, Geschichten einer sozialdemokratischen Familie, Promedia Verlag 2023, ISBN: 978-3-85371-523-9 ↩︎
  4. Adolf Brock, Oskar Negt, Nikolaus Richartz (Hrsg.), Bildung – Wissen – Praxis, Beiträge zur Arbeiterbildung als politische Bildung, 1991 Bund Verlag, Seite 40 ↩︎
  5. „Wissen ist Macht“, Otto Glöckels Bildungsreform, VGA – Dokumentation 2024, Seite 14, ISSN 2305-5669 ↩︎
  6. Adolf Brock, Oskar Negt, Nikolaus Richartz (Hrsg.), Bildung – Wissen – Praxis, Beiträge zur Arbeiterbildung als politische Bildung, 1991 Bund Verlag, Seite 60 ↩︎
  7. Sven Lindqvist, Grabe wo du stehst – Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte, EAN: 9783801201449 ↩︎
  8. https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/14353 ↩︎
  9. Als Beispiel – Rote Banditen von Wilhelmine Goldmann im Promedia Verlag 2023 erschienen, ISBN: 978-3-85371-523-9 ↩︎
  10. Hingerichtet im Kampf für Freiheit und Demokratie, Artikel am Blog des Verein Rote Spuren vom 12. März 2019 ↩︎
  11. Maria Sporrer / Herbert Steiner [Hrsg.]: Rosa Jochmann. Zeitzeugin. Wien [u. a.]: Europaverlag 1983 ↩︎
  12. Alphabet – Angst oder Liebe, Seite 16, Erwin Wagenhofer, Sabine Kriechbaum & Andrè Stern, Prisma Film- und Fernsehproduktion, 2013, ISBN: 978-3-7110-0041-5 ↩︎
  13.  ORF.at vom 27.6.2023 – Quelle: Global Wealth Report der Boston Consulting Group ↩︎
  14. Brigitte Kurzer/Horst Mathes/ Manfred Scherbaum (Hrsg.) Bildung ist der Rede wert – Perspektiven gewerkschaftlicher Bildungsarbeit im Aufsatz von Petra Wolfram – Sechs Gründe für eine gesellschaftspolitische Bildungsarbeit. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9/2006, Seite 33, ISBN: 3-89965-933-3 ↩︎
  15. Werner Lenz, Wertvolle Bildung, kritisch, skeptisch, sozial…, Erhard Löcker GmbH, 2011, Seiten 76 ff, ISBN 978-3-85409-591-0 ↩︎
  16. Gernot Böhme, Philosophieprofessor an der TU Darmstadt, 1999 ↩︎