Wir besuchen das Heringmuseum in Siglufjördur. Anfang des 20. Jahrhunderts war hier der grosse Heringboom. Norwegische Fischereischiffe fischten erfolgreich mit Ringwadennetzen in den Gewässern von Island und gründeten Betriebe zur Fisvhverarbeitung.
Innerhalb von nur vierzig Jahren entstand in Siglufjörður eine Stadt mit mehr als dreitausend Einwohnern. Das gesamte Leben drehte sich um den Hering und seine Verarbeitung. In 23 Fabriken wurde Salzhering produziert und fünf Fabriken erzeugten Fischmehl und Fischöl. Siglufjörður entwickelte sich auch zu einem der wichtigsten Häfen Islands. Im Verlauf des Heringsbooms herrschte in der Stadt eine Art Goldrausch. Siglufjörður wurde sogar als “Atlantic Klondike” bezeichnet.
Anita Elefsen, Direktorin des Isländischen Heringsmuseums, sagt:
„Es gab im Laufe der Jahrhunderte Tausende von Heringsfrauen im Land und viele von ihnen beschlossen, Heringsmädchen zu werden. Das wurde zu ihrer Lebensaufgabe, und natürlich war dies nur ein Sommerjob und nur während der richtigen Heringssaison im Sommer.
Die Hering-Girls hatten eine ziemlich gute Zeit und erkannten bald ihre Bedeutung in der Branche, gründeten aber unter anderem Gewerkschaften für Mädchen und Frauen. „Sie hatten keine Angst, aufzustehen und bessere Bedingungen zu fordern. Sie streikten zum Beispiel 1925, also vor fast 100 Jahren“.
Bezahlt wurden die Frauen pro Fass und nicht pro Stunde.
Das Museum besteht aus drei Gebäuden, die zwischen 2003 und 2004 hier errichtet bzw. wiedererrichtet wurden. Interaktive Stationen im so genannten Bootshaus machen den lebhaften Hafenbetrieb während der 1950er Jahre lebendig.
Ich versuchte im Museum Bilder zu finden, die die Arbeiter:innen darstellen. Es geht mir um jene Frauen und Männer, die Tag und Nacht Fische einsalzten oder auf den Fangschiffen unterwegs waren.
Die Kleidung lässt oft erraten, wer welche Stellung im Betrieb hatte. Ob ihnen bei der Arbeit auch zum Lächeln war, wie oftmals auf den Fotos zu sehen ist, wissen wir nicht. Das Arbeitsleid in den 30er-Jahren war sicher groß.
DERSTANDARD – Eine Geschichte von Armut und Fleiß, von Aufstieg, Wohlstand und Reichtum – und von Gier.
Hering-Spekulanten machten Vermögen. Zehntausende fanden Arbeit: Auf Fangschiffen, in fünf Heringsfabriken oder an den 25 Einsalz-Stationen. Das Meer schien unerschöpflich – und die Welt brauchte Fett. Der Fisch wurde gegessen, sein Öl kam in Tierfutter und Seife. Sogar die Erdölwirtschaft rechnete in Heringen. Bis heute: “Barrels” sind alte Heringfässer. Die waren omnipräsent – und genormt. Auf 158,99 Liter.
Gut 20 Prozent der Welt-Heringe stammten aus Island. Und Siglufjördur war Islands Hering-Hauptstadt: 400 Fischerboote waren hier registriert.
Der Fisch brachte Wohlstand. Und Wachstum: Flotte, Fangtechniken und Verarbeitung wurden besser und besser: Man wollte und holte mehr aus dem Meer. Dass Wachstum immer endlich ist, war kein Thema.
Nachdem der Hering 1968 aus den isländischen Gewässern verschwunden war, spielte Lodde eine wachsende Rolle beim Export, und in den Jahren 1976 bis 1990 machten Loddemehl und -öl 8 % der Exporterlöse aus.
Die Leute in Siglufjördur erlebten, was “Überfischung” heißt. Für die Natur – und den Menschen: “Islands Gold” war 1968 weg. Die Heringschwärme waren verschwunden.