“Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“

Dieser Ausspruch von Julius Tandler, dem Wiener Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen, drückt das Selbstverständnis jener Männer und Frauen aus, die nach dem Ersten Weltkrieg das “Rote Wien” mit all seinen Errungenschaften aufbauten. Anlässlich unseres Rundgangs “Arbeiten und Leben am Wienerberg” arbeiten wir an einer Begleitbroschüre. Einer dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Roten Wien und versucht einen Bezug zu Favoriten herzustellen.

Das Rote Wien in Favoriten

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie kam es zur Bildung eines vorläufigen Gemeinderates, dem 84 Christlichsoziale, 21 Deutschnationale und 60 Sozialdemokraten angehörten.[1]

Die ersten Wahlen nach dem neuen demokratischen Wahlrecht für Männer und Frauen, die das 21. Lebensjahr vollendet hatten, ergaben am 4. Mai 1919 einen überwältigenden Erfolg der Sozialisten, die mit 100 von 165 Gemeinderatssitzen eine massive absolute Mehrheit erreichten.2

Seit 10. November 1920 ist Wien ein eigenes Bundesland

In der 7. Länderkonferenz am 12. und 13. Oktober 1919 fiel die Vorentscheidung für einen Bundesstaat mit Wien als Bundesland. Die am 1. Oktober beschlossene und am 10. November 1920 in Kraft getretene Bundesverfassung definierte Wien in den Artikeln 108-114 als eigenständiges Bundesland mit Bezug auf die Landesverfassung, die Abgabengesetzgebung und die Vertretung im Bundesrat. Der Wiener Gemeinderat beschloss, nunmehr als Landtag, noch am 10. November

1920 die am 18. November 1920 in Kraft getretene Wiener Stadtverfassung.  Jakob Reumann (Foto nebenan) war vom 22. Mai 1919 bis zum 23. November 1923 Bürgermeister Wiens und nach der Trennung Wiens von Niederösterreich der erste Wiener Landeshauptmann.
Die eigentumsrechtliche und organisatorische Trennung vom Bundesland Niederösterreich wurde verhandelt und führte zum gleichlautend vom Wiener und vom niederösterreichischen Landtag beschlossenen „Trennungsgesetz” vom 29. Dezember 1921, das mit 1. Jänner 1922 in Kraft trat.[3]

Bevölkerungsentwicklung in Favoriten

Der Bezirk Favoriten umfasste 1869 nur 22.340 Einwohner. Durch den enormen Zustrom von Arbeitern in das Bezirksgebiet bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs versiebenfachte sich die Bezirksbevölkerung bis 1910 auf 159.241 Einwohner.[4]

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer massiven Einwanderung von Arbeitern und Handwerkern aus Böhmen und Mähren. Legendär waren die böhmischen Köchinnen und Ammen, die in den Wiener Herrschafts- und Bürgerhäusern Beschäftigung fanden, aber auch die sogenannten “Ziegelbehm”, die am Wienerberg unter schwierigsten Bedingungen ihr Leben fristeten.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erreichte die tschechische Zuwanderung ihren Höhepunkt. Bei der Volkszählung des Jahres 1900 gaben zwar “nur” 103.000 von 1,7 Millionen Einwohnern “Tschechisch” oder “Slowakisch” als Muttersprache an, es wird jedoch geschätzt, dass während des Ersten Weltkriegs etwa 300.000 Tschechen und Slowaken in Wien gelebt haben. In Favoriten dürfte es mehr als ein Viertel der Bevölkerung gewesen sein; allein hier gab es über 50 Kultur- und Sportvereine – der bekannteste von ihnen ist der Verein Sokol.[5]

Die Wohnungsnot nach dem ersten Weltkrieg

Über 400 Wohnbauten mit 60.000 Wohnungen wurden im Roten Wien bis 1934 fertiggestellt. Gitta Tonka lässt im Buch Favoriten – Auf den Spuren eines Wiener Arbeiterbezirks – lässt ihre Mutter, die neben dem Pernersdorfer Hof wohnt, zu Wort kommen:

„Unsere Wohnung im Gemeindebau, Troststrasse 64, lag im ersten Stock. Sie bestand zwar nur aus einem Zimmer und einer Wohnküche, hatte aber drei große und ein kleines Fenster. In der Küche standen ein Gasherd und ein Koksofen, die Kochnische war verfliest, der Boden des übrigen Küchenraums mit einem Linoleumbelag versehen. Unter dem Fenster war ein belüftetes Kästchen zur Aufbewahrung von Lebensmitteln eingebaut. Im Zimmer gab es zwei große Fenster und einen Parkettfußboden, Klosett und Wasserleitung befanden sich innerhalb der Wohnung, dann hatten wir noch einen Keller und einen kleinen Verschlag auf dem Dachboden. Ein Paradies für uns Kinder war der grüne Innenhof mit dem Kinderspielplatz, wo wir uns bei Diabolospielen, Tempelhüpfen und Wolferltreiben vergnügen konnten. Und die Miete für all das betrug etwa 4 Prozent eines Arbeiterlohns. Kein Hausherr konnte sich hier an armen Mietern bereichern.“[6]

Gemeindebauten in Wien[7]

Wie wurden sie sozialen Errungenschaften finanziert?

Die Errungenschaften des Roten Wien waren nur durch eine neue Steuer- und Investitionspolitik möglich, die von Finanzstadtrat Hugo Breitner forciert wurde: weniger Massensteuern, mehr Besteuerung der Wohlhabenden. Insgesamt wurde die Abgabenlast aber nicht erhöht. Die Finanzpolitik des Roten Wien galt als Erfolg.[8]

Breitner führte im Roten Wien einige sehr ertragreiche Steuern und Abgaben ein. „Luxussteuern“ im engeren Sinn, wie die Hauspersonal-abgabe, Luxus-warenabgabe oder „Pferdeabgabe“, brachten teilweise nur geringe Erlöse, hatten aber großen symbolischen Charakter.
Ein Prinzip von Breitners Finanzpolitik war, dass städtische Betriebe, wie die Wasserwerke, kostendeckend geführt werden mussten: Sie finanzierten sich nicht aus Steuern, sondern Nutzungsgebühren. Andere Bereiche,

wie die Kindergärten, wurden dagegen in großen Teilen aus dem Stadtbudget bezahlt, um eine Verteilungswirkung zu erzielen.

Fürsorgeabgabe

Das Rote Wien führte 1920 die Fürsorgeabgabe für Arbeitgeber ein. Besteuert wurde die insgesamt ausbezahlte monatliche Lohn-summe. 1922 wurde der Steuersatz für Banken erhöht.

Schlaue Sozialpolitik vor Ort:

Funktionär:innen der Sozialistischen Partei engagierten sich vielfach für ein gesunderes, besseres und gutes Leben.  Unter dem Motto „Licht, Luft und Sonne“  wurden Verbesserungen für arbeitende Menschen propagiert. Oswalda Tonka schildert im Buch „Buchengasse 100“ eine Aktion zur Errichtung von Schrebergärten:

„Als bekannt wurde, dass das »Rote Wien« Interesse an der Errichtung von Schrebergärten am Stadtrand hatte, stiegen die Grundstückpreise für sie in enorme Höhen. Die reichen Leute wollten unter sich bleiben und hatten kein Interesse an einer Nachbarschaft mit dem ärmeren Teil der Bevölkerung. Deshalb griffen die Sozialdemokraten zu einer List. Sie schickten einen vermeintlich reichen Herrn zu Baron Drasche, um von ihm ein großes Grundstück im zehnten Bezirk zu pachten. Dazu suchten sie meinen Vater aus, der mit seiner stattlichen Größe und seinem vornehmen Aussehen besonders geeignet schien. Die Partei stellte ihm noch einen eleganten Winterrock zur Verfügung, sodass er auch glaubhaft »als Käufer« auftreten konnte. Souverän und sich der guten Sache bewusst schloss mein Vater als »Strohmann« der Gemeinde Wien einen günstigen Kaufvertrag mit dem Baron Drasche ab. Durch seine Mithilfe konnte bald darauf der erste Spatenstich gemacht werden für die Errichtung der Kleingartenanlage »Am Brunnweg.“[9]

Das Selbstverständnis der Sozialpolitik im Roten Wien

Eine der inhaltlichen Grundlagen für diese sozialpolitischen Aktivitäten erläuterte Julius Tandler (Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen und Professor an der UNI Wien) bei einem Referat, das in der Arbeiterzeitung am 20. Mai 1924 veröffentlicht wurde. Ein paar Auszüge davon mit zwei Beispielen zu Kinder und Jugend und Mutterberatung:[10]

Dabei definiert Tandler das Recht auf Fürsorge und sieht sie als grundlegende Pflicht der Stadtverwaltung. Fürsorger und Befürsorgte stehen zueinander in einem Rechts- und Pflichtverhältnis und nicht wie früher in einer Abhängigkeit einer Wohltätigkeit.

„Kinder haben ein Anrecht auf Fürsorge und die Gesellschaft ist ihr Sachwalter“ und „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“

Weitere Auszüge aus der Rede von Tandler:
Früher blieben die Proletarierkinder allein in den Wohnungen oder auf der Straße. Wir haben jetzt die Volkskindergärten errichtet, in denen die arbeitenden Frauen die Kinder deponieren können.

  • Wir haben heute 46 Schulärzte, 7 Schulzahnkliniken, die einen ungeheuren Aufwand erfordern.
  • Wir haben die Ausspeisungen der Kinder: die Gemeinde ernährt jetzt im Tage 20.000 Kinder in der Schulausspeisung oder Kindergartenausspeisung.
  • Wir geben den Kindern nach Möglichkeit eine Ferialerholung durch Wiens Jugendhilfswerk.

Ich bin der Meinung, dass ein weiterer Ausbau der Jugendfürsorge, die Lehrlingsfürsorge, unbedingt angestrebt werden muss. Sie liegt heute noch sehr im argen. Die Lehrlingsnot ist umso unerträglicher, als sich der Lehrling in einem kritischen Alter, in der Zeit der Mannbarkeit befindet.

Die Fürsorge erstreckt sich dann auf die schwangere Frau. Eine sozialistisch geführte Gesellschaft müsste für die Schwangeren unendlich viel mehr leisten als die heutige. Dazu gehört nicht nur Geld, sondern vor allem Erziehung.
     Vor allem muss das werdende Kind vor der Ansteckung durch Syphilis behütet werden. Die Syphilis kostet uns jährlich Milliarden. Mindestens ein Fünftel unserer Ausgaben für Wohlfahrtspflege könnte entfallen, wenn die Syphilis genügend bekämpft würde. Es ist daher für uns von der allergrößten Bedeutung, die Menschen von der Syphilis zu heilen oder vor ihr zu bewahren. In den Mütterberatungsstellen wird der Kampf gegen die Syphilis programmatisch geführt; dadurch wird das werdende Kind vor der Ansteckung bewahrt.
    Sind die Kinder geboren, so werden sie vom Jugendamt erfasst, dessen Fürsorgerinnen sie der Mütterberatungsstelle zuführen. Dasselbe gilt für die Kinder, die in den Gebäranstalten zur Welt kommen, ohne Unterschied, ob sie ehelich oder unehelich sind. Daher ist Wien die einzige Großstadt auf dem Kontinent, die keine Findelanstalt besitzt. Im Säuglingsheim können alle Kinder, eheliche und uneheliche, Aufnahme finden.

Im Georg-Washington- Hof befand sich eine dieser Mutter-Beratungs-Stellen.


Quellenverzeichnis