Wir starten unsere Zeitmaschine und bilden ein Wurmloch im Zeitkontinuum und über die Einstein-Rosen-Brücke landen wir an einem grauen Adventtag 1869 am Paradeplatz in Wien, wo ein paar Jahre später mit dem Rathausbau und die Baugrube für das Parlament ausgehoben wurde. Die Vorbereitungen für die erste moderne Volkszählung in der Österreichischen-Ungarischen Monarchie waren in der Endphase. Die Statistik hielt Einzug in der Josephischen Zentralbürokratie.
Nach dem Revolutionsjahr 1848 hatte das reiche Bürgertum dem Kaiser einige Bildungs- und Mitwirkungsrechte abgerungen. Der damals im Juni 1848 gegründete „Erste Allgemeine Arbeiterverein“ im Fürstenhof in Beatrixgasse mit dem Vorhaben „der Belehrung durch leicht fassliche Vorträge“ und „Unterhaltung in würdiger, belehrender Weise“1 wurde bei der Niederschlagung der Revolution durch die Kanonen des Kaisers und seiner adeligen Generäle unter den Leichen tausender Arbeiter:innen begraben. Der zweite größere Aufstand2 für Freiheit, Demokratie und dem Zugang zu Bildung im Kaiserreich blutig von den Habsburgern nieergeworfen.
In den Jahren vor unserer Ankunft mit der Zeitmaschine spotteten europäische Intellektuelle mit einer beliebten Metapher über Österreich als das „deutsche China, in dem ein väterlicher Despotismus herrscht“. Engels meinte damals: „Der größte Feind der österreichischen Barbarei sei die moderne Zivilisation“.3 Trotzdem schafften es die Buchdrucker 1864 einen „Fortbildungsverein“ für Buchdrucker durchzusetzen. Weitere Arbeiterbildungsvereine sollten folgen. Die bürgerlichen Medien und Publikationen der Bildungsvereine wurden immer wieder vom Polizeiapparat der Habsburger konfisziert und stets schwebte der Hochverratsparagraph über den politischen Äußerungen.4
Ein weiteres mächtiges Zeichen für Bildung und Demokratie und der Kampf um Koalitionsfreiheit
Hier im Zentrum von Wien tummelten sich am Morgen reiche Bürger:innen, Adlegie und Angestellte des Hofes warm eingepackt, um den winterlichen Temperaturen zu trotzen. Irgentwie herrschte seltsame Anspannung auf dem Platz wo wir standen. Polizei, einige Soldaten, die üblichen Spitzel des kaiserlichen Staatsapparats standen wie zufällig umher. Plötzlich tauchten an die 40 Mitglieder von Arbeiterbildungsvereinen auf. Im Wiener Tagblatt vom 14.12.18695 hieß es dann:
Schon am Morgen sah man zahlreiche Arbeiterscharen bei den Linien aus den Vororten hereinziehen, welche sich theils in Gasthäusern, theils auf bestimmten Plätzen versammelten; um acht Uhr wurde beinahe in allen, größeren Fabriken, namentlich in den Werkstätten der Eisenbahnen zu arbeiten aufgehört und die Arbeiter zogen nun gegen den Paradeplatz. Dort hatten sich um dieselbe Stunde etwa 40. Mitglieder des Arbeiter-Bildungsvereines eingefunden, welchen augenscheinlich die Aufgabe oblag, bei der bevorstehenden Demonstration die Ordnung aufrecht zu erhalten.
Aus der Masse der 20.000 Demonstrant:innen löste sich eine Delegation, die heute am Beginn der Reichsratssession eine Petition verfasst hatte. Die 14 Mitglieder der Delegation waren: Andreas Scheu (Zeitungsredakteur). Johann Pabst (Schriftsetzer), Martin Perka (Korbflechter), Johann Baudisch (Schneider), Leopold Schäftner (Steinmetz), Friedrich Pfeiffer (Journalist), Heinrich Gehrke (Sattler). Ludwig Eichinger (Eisendreher), Ferdinand Dorsch (Bandmacher), Friedrich Häcker (Tischler), Johann Schönfelder (Eisenbahner). Heinrich Perin (Tischler), Johann Most (Buchbinder) und Heinrich Oberwinder (Journalist).
Unterstützt wurde die Delegation von Arbeiter:innen aus Wiener Neustadt und Brünn. Der Wortlaut der Petition:
An das k. k. Staatsministerium!
Bestimmt durch das entschiedene Auftreten der großen Volksmassen, welche heute am Eröffnungstage des Reichsrathes erschienen sind, um den so oft in Versammlungen und durch Petitionen ausgesprochenen Forderungen
An das k. k. Staatsministerium!
Bestimmt durch das entschiedene Auftreten der großen Volksmassen, welche heute am Eröffnungstage des Reichsrathes erschienen sind, um den so oft in Versammlungen und durch Petitionen ausgesprochenen Forderungen Nachdruck zu geben, haben die Unterfertigten beschlossen, das Ministertum zu ersuchen, im Interesse der Wohlfahrt des österreichischen Volkes dahin zu wirken, daß bei Beginn der Reichsrathssession das unbeschränkte Koalitionsrecht bewilligt und das Gesetz über die Zwangsgenossenschaften beseitigt werde; daß ferner noch im Laufe dieser Session dem Reichsrathe eine Vorlage gemacht werde bezüglich der Herstellung des völlig freien Vereins- und Versammlungsrechtes, – der absoluten Preßfreiheit und der Einführung des gleichen und direkten Wahlrechtes.
Wir unterlassen hiebei nicht, das Ministerium daran zu erinnern, daß das Volk Bürgschaft verlangt für den Frieden und die Freiheit, und zwar die Beseitigung der stehenden Heere und die Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung.
Sollten die erwähnten Forderungen in dieser Reichsratssession nicht berücksichtigt werden, so dürfte es möglich sein, daß das Volk wiederholt und in großen Massen erscheint, um seinen Willen kundzugeben.
Nachdruck zu geben, haben die Unterfertigten beschlossen, das Ministertum zu ersuchen, im Interesse der Wohlfahrt des österreichischen Volkes dahin zu wirken, daß bei Beginn der Reichsrathssession das unbeschränkte Koalitionsrecht bewilligt und das Gesetz über die Zwangsgenossenschaften beseitigt werde; daß ferner noch im Laufe dieser Session dem Reichsrathe eine Vorlage gemacht werde bezüglich der Herstellung des völlig freien Vereins- und Versammlungsrechtes, – der absoluten Preßfreiheit und der Einführung des gleichen und direkten Wahlrechtes.
Wir unterlassen hiebei nicht, das Ministerium daran zu erinnern, daß das Volk Bürgschaft verlangt für den Frieden und die Freiheit, und zwar die Beseitigung der stehenden Heere und die Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung.
Sollten die erwähnten Forderungen in dieser Reichsratssession nicht berücksichtigt werden, so dürfte es möglich sein, daß das Volk wiederholt und in großen Massen erscheint, um seinen Willen kundzugeben.
Die Mitglieder der Delegation, die für Freiheit, Bildung und Demokratie kämpften, waren für die Habsburger Hochverräter.
Die Habsburger veranstalteten noch einen Schauprozess, um ein Exempel an den mutigen Überbringern der Petionen zu veranstalten.
Der Druck der Strasse und Arbeiter:innen war so groß, dass 1870, die Urteile aufgehoben wurden und die ersten Anfänge von Kolitionsfreiheit6 beschlossen wurden. Ein weiterer Schritt zur Bildung von Gewerkschaften und damit Zugang zu besserer Bildung in diesen Verrinen war gelungen.
Fußnoten
- Broschüre „Bildung und Gerechtigkeit – 150 Jahre Arbeiterbildungsbewegung in Österreich“, Hrsg. ÖGB 2017, Seite 13 ↩︎
- Die ersten größeren Aufstände waren die Bauernkriege, wo zum Beispiel in den zwölf Artikeln von Memmingen oder den 14 Gasteiner Artikeln die Bauern Mitwirkungsrechte gefordert wurden. Die Bauernaufstände waren die größte revolutionäre Bewegung in Europa vor der Französischen Revolution. Artikel Rote Spuren: https://rotespuren.at/blog/2023/04/10/die-bauernkriege-am-wienerberg/ ↩︎
- Gernot Trausmuth im Blogartikel (www.gernottrausmuth.at) – Bienenstock und Katzenmusik – die Revolution 1848 ↩︎
- Die Verwandlung der Welt, eine Geschichte des 19. Jhdts, Jürgen Osterhammel, Verlag C.H. Beck, München 2009, Seite 66, ISBN 9783406614811 ↩︎
- Digitales Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek ↩︎
- Die Koalitionsfreiheit im österreichischen Recht – https://www.drda.at/a/360_DRDA_6/Die-Koalitionsfreiheit-im-oesterreichischen-Recht ↩︎