„…diese armen Ziegelarbeiter sind die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint“
Victor Adler
Dieses Zitat stammt von Viktor Adler, der als Armenarzt täglich das Elend der Menschen sah und hörte. Wie kam es dazu? Welche Ursachen führten zu diesem Elend und zu dieser Unterdrückung, die an Sklavenarbeit erinnerte?
1820 – 1869
Um 1820 war das Ziegelwerk am Wienerberg das größte Europas, wo mehrere tausend Menschen beschäftigt waren. 1830 hatte Wien rund 400.000 Einwohner – 80 Jahre später waren es 2,2 Millionen.[1] Die beginnende Industrialisierung in den Ländern der Monarchie führte zu Arbeitslosigkeit und die Menschen mussten ihre Heimat verlassen, um Arbeit zu finden. Wien war wie ein verführerischer Magnet, wo Arbeit und pulsierendes Leben die Arbeitsuchenden zu tausenden anzog.
Alois Miesbach und Heinrich Drasche führten die Ziegelwerke am Wienerberg als „patriarchal-fürsorgliche Unternehmer”. Ihr Ziel war es, die Arbeiterinnen, die ja den Reichtum des Unternehmens durch ihre Arbeit schufen, auch gut und fair zu behandeln. Es gab eine Reihe an Sozialleistungen im Ziegelwerk. Etwa eine Renten- und Kranken-versicherung, einen Kindergarten, eine Schule und ein Spital. Und es gab Wohnhäuser am Werksgelände.
Die nicht allzu hohe Miete wurde vom Lohn abgezogen. In Kantinen konnte gegessen werden. So war zumindest für die Grundbedürfnisse der Arbeiterinnen gesorgt, sofern sie bei einer Arbeitszeit bis zu 18 Stunden täglich Bedürfnisse noch irgendwie artikulieren konnten. Um 1820 gab es rund 100 Arbeiterinnenwohnhäuser am Wienerberg. Jede Familie hatte eine kleine Wohnung mit einem Zimmer und einer Küche. Die Sozialleistungen sorgten für eine starke Bindung der Arbeiterinnen an den Betrieb, aber auch für Kontrolle des Betriebs über die dort Beschäftigten.
1869 – Der Gang an die Börse mit der obersten Maxime der Gewinnoptimierung für die Aktionäre
Als aus dem Privatunternehmen eine Aktiengesellschaft wurde, war es vorbei mit den Sozialleistungen. Der Börsegang bedeutete dramatische Verschlechterungen für die Arbeiter:innen.
- Die Wohnhäuser wurden extrem überbelegt. Aus Wohnhäusern wurden Schlafsäle, wo bis zu 70 Menschen zusammengepfercht wurden.
- Soziale Missstände – Männer, Frauen, Kinder ohne Intim- und Privatsphäre. Frauen, die in einem Eck auf Stroh ihre Kinder gebären.
- Kinderarbeit stand an der Tagesordnung.
- Ein 15-Stunden Tag innerhalb einer 90-Stunden-Woche war üblich.[2
- Es wurde immer weniger Lohn ausbezahlt. Die Auszahlung erfolgt in „Blech“ mit dem man nur in speziellen Kantinen die überteuerten Waren beziehen. Dieses verbotene Trucksystem führte zu einer „doppelten“ Ausbeutung der ausgeschundenen Arbeiter:innen,
- Sie durften den Betrieb auch außerhalb der Arbeitszeit nicht verlassen, sonst folgte die sofortige Entlassung gleichbedeutend mit sofortiger Obdachlosigkeit und dem Zwang zum Betteln um Nahrung.
- Die Kantineure – Blockwarte der Ziegelbarone – hielten strenge Ordnung, oftmals auch mit dem Ochsenziemer mit dem sie jedes Aufbegehren niederschlugen.
Die Ziegelwerke waren wie unbekannte Insel außerhalb der Stadt, wie weiße Flecken auf einer Landkarte.[3]
Wie eine Bergwerkssiedlung am „Wienerberg“, ein abgelegenes Gelände außerhalb des Linienwalls, das Werk war eine Welt für sich. Am Ziegelofen war der Arbeitsplatz, das Wirtshaus und die Unterkunft.
Hier wurde produziert und gewohnt, – geboren, gelebt und gestorben. Anzeigen 4
Victor Adler als erster Aufdeckungsjournalist der Arbeiterbewegung schreibt
Ich habe nicht geglaubt, dass Hunderte, ja Tausende von Menschen nackt auf Ringöfen schlafen, dass fünftausend Menschen, Arbeiter einer reichen Aktiengesellschaft, in Wohnungen hausen, die schlimmer sind als alles, was in der Beziehung möglich gedacht werden kann. Darum habe ich mich persönlich von den Verhältnissen überzeugt.
Ich bin bei Nacht hinein ins Werk. Wir mussten uns einschleichen, denn so ohneweiters kann man in dieses Werk nicht hinein. Wir haben Fürchterliches gesehen. In einer Wohnung, das ist in einem Raum, der ein Zehntel so groß ist wie dieser Saal, wohnen achtzig Menschen beisammen. Auf verfaultem Stroh lagen Menschen zusammengepfercht, die ihre Hemden aus Sparsamkeitsrücksichten ausgezogen und neben sich gelegt hatten: Männer, Weiber, Kinder durcheinander. In einer Baracke sahen wir eine Frau, die ein neugeborenes Kind neben sich liegen hatte. Ich fragte sie: „Wo haben Sie entbunden?“ Die Antwort lautete: „Hier.“ Hier, mitten unter den Männern und Kindern, unter sich die Glut, über sich die Winterkälte. Wir sind hinaus nach diesem Wort. Ich hatte gesehen und habe nun begonnen zu schreiben.
Unbefugte Verteilung der „Gleichheit“ an die Ziegelarbeiter:innen[5]
Im Dezember 1888 hatte sich Adler mit zwei Ziegelarbeitern, Hader und Raab, verkleidet in die Ziegelwerke am Wienerberg eingeschlichen, um sich mit eigenen Augen von den entsetzlichen Verhältnissen zu überzeugen. Die Artikel, die Adler darüber in der Gleichheit” veröffentlichte, erregten großes Aufsehen und hatten zur Folge, dass der Gewerbeinspektor eingriff und–das ,,Blechmarkensystem“ eingestellt wurde. Die Wienerberger Aktiengesellschaft rächte sich durch Entlassungen und die Gendarmerie verhaftete die zwei Arbeiter wegen — Verbreitung der betreffenden Nummer der „Gleichheit“ und lieferte sie ans Bezirksgericht, wo sie einige Tage in Haft saßen. Mit ihnen wurde Adler am
30. Dezember 1888 vom Bezirksgericht Alsergrund wegen „unbefugter Verbreitung“ der,,Gleichheit“ nach § 23 Preßgesetz angeklagt und zu je 30 Gulden Geldstrafe verurteilt.[6]
Die Ausbeutungspraktiken der Wienerberger Ziegelfabrik im Zusammenspiel mit den Behörden[7]
Das heute wie eine Unmöglichkeit erscheinende und auch im Jahre 1895 doch nur mehr seltene Elend der Ziegelarbeiter, die eine Stunde vor den Toren Wiens in vollkommener Recht- und Schutzlosigkeit den Ausbeutungspraktiken der Wienerberger Ziegelfabriks-Aktie und Baugesellschaft ausgeliefert waren, hatte frühzeitig das Interesse Adlers erregt. Schon im Jahre 1888 hatte die „Gleichheit“ über die Zustände in Inzersdorf geschrieben, und Pernerstorfer hatte im Reichsrat eine Interpellation eingebracht. Es hatte nichts genützt.
Am 15. April 1895 traten, wie fast alljährlich in dieser Zeit, die Ziegelarbeiter, über viertausend Männer und Frauen, in Streik, weil ihnen im Winter die Akkordlöhne gekürzt wurden und sie sich erst im Frühjahr infolge der erhöhten Bautätigkeit wieder höhere Löhne erkämpfen konnten. Sie erhielten so wie die Arbeiter des Hernalser Werkes für eine ganze Ziegelarbeiterfamilie bei einer täglichen Arbeitszeit von 4 Uhr früh bis 9 Uhr abends wöchentlich 12 Gulden. … Nun verlangten sie 18 Gulden sowie die Abschaffung der sogenannten Prämien, die eigentlich Abzüge vom Lohn waren — das genügte, um Gendarmerie und Militär gegen sie in Bewegung zu setzen. Eine Reihe blutiger Zusammenstöße, wobei Arbeiter und Arbeiterinnen lebensgefährliche oder wenigstens schwere Säbelhiebe bekamen, ereignete sich, ohne dass die Regierung mehr tat, als eben ihre bewaffnete Macht in den Dienst des Kapitals zu setzen. Die „Arbeiterzeitung“ brachte eine Reihe von Artikeln, die mehr oder minder konfisziert wurden. Am 23. April schrieb sie:
Der Streik der Ziegelarbeiter:innen 1895
fordert jeden Tag neue blutige Opfer. Am Donnerstag sind in Inzersdorf zehn Arbeiter und Arbeiterinnen verwundet worden; Samstag ist der Arbeiter Urbanek lebensgefährlich verletzt worden und aus seiner tiefen Ohnmacht bis heute nicht erwacht; am Montag sind im Vösendorfer Gebiete zwei schwere und neun leichtere Verwundungen Männern und Frauen zugefügt worden. Das alles geschieht in Wien, eine Stunde vom Sitz des Ministeriums, vor den Augen der Regierung! Die Regierung sieht nichts und hört nichts. In jedem anderen Lande würde das Ministerium die lauten und beweglichen Klagen der gepeinigten Proletarier hören und eine energische Untersuchung dieser Zustände sofort beginnen müssen. Dabei sind alle Behörden von der Gerechtigkeit und Billigkeit der Forderungen der Arbeiter:innen im Innern vollständig überzeugt. Jeder Tag (fordert neue Opfer, das Ministerium bleibt unbeweglich. Blut ist geflossen, Menschenblut, und es geschieht nichts, als dass der Staatsanwalt die Zeitungen, die nicht lügen, konfiszieren lässt.
s Wiener Tagblatt, 18. April 1895[8]
Wegen dieses Artikels leitete die k. k. Staatsanwaltschaft ausnahmsweise auch die subjektive Verfolgung ob Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe ein, und Adler meldete sich als Verfasser. Der verantwortliche Redakteur Bretschneider wurde wegen dieses und anderer Artikel
ob Vernachlässigung der pflichtgemäßen Obsorge mitangeklagt. Gegen Adler wurde gleichzeitig die Anklage wegen Vergehens gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung erhoben, begangen durch eine Rede am 1. Mai, worin er sagte: „Der Achtstundentag ist eine revolutionäre Forderung, nicht weil er „die Revolution“ ist, sondern weil er sie erst möglich macht.“ Der Achtstundentag lässt den Arbeiter in der Ausbeutung, aber er gibt ihm die Möglichkeit, sich von ihr zu befreien.“
Die ZiegelarbeiterInnen begannen sich zu organisieren, nicht nur in Wien, sondern auch in Böhmen, Mähren und Galizien. Eine der ersten sichtbaren Zeichen ihrer Stäre, war der Streik der ZiegelarbeiterInnen im April 1895. Rund 10.000 ArbeiterInnen streikten in 30 Ziegeleien. Ziegel wurden nicht verladen und nicht ausgeliefert.[9]
Die Gewerkschaften organisierten eine Solidaritätskampagne, in Gasthäusern wurde kostenloses Essen an Streikende ausgegeben und Frauen sammelten Kleidung. Victor Adler und der Reichsratsabgeordnete Engelbert Pernersdorfer besuchten die Ziegelwerke.
Nach acht Streiktagen stand das Ergebnis: Lohnerhöhung von durchschnittlich 15 Prozent, Einhaltung des Elfstundentages, die Sonntagsruhe und ein gerechtes Prämiensystem. Der eigentliche Erfolg war aber, dass der Staat und die Firmenleitungen erstmals direkt mit Gewerkschaftern und Vertretern der ZiegelarbeiterInnen verhandelten und diese als gleichberechtigte Verhandlungsparteien anerkannten.
Union der Ziegelarbeiter
Nach dem Streik wurde eine Fachgewerkschaft der Ziegelarbeiter und der „Fachverein der Ziegelarbeiter“ gegründet, deren Arbeit wurde aber von den Werksleitungen massiv behindert. Im Jahr 1905 gelang es mit der Gründung der „Union der Ziegelarbeiter“ ein starkes Gegengewicht zu den Unternehmern zu schaffen. Im Jahr 1907 zählte sie bereits 37 Ortsgruppen von Inzersdorf über Ostrau (heute Ostrava, Tschechische Republik) bis Lemberg (heute Lwiw, Ukraine). Im Jahr 1909 schloss die Union ihren ersten Kollektivvertrag für 17.000 ZiegelarbeiterInnen ab.
Unser zweiter Artikel für den Rundgang “Arbeit und Leben am Wienerberg”.
Quellenverzeichnis
- [1] Wolfgang Slapansky – Reise in die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung in Wien (Georg Sever Hrsg.), ÖGB-Verlag, 2018, ISBN 978-3-99046-331-4, Seiten 14 ff
- [2] Favoritner Museumsblätter, Nummer 30, Walter Sturm, Wien 2004, Seite 55
- [3] Wolfgang Slapansky nannte den Wienerberg eine „Terra incognita“ – ein Gebiet außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung.
- [4] Die Todesanzeige stammt aus der Wiener Zeitung Nr. 215 vom Montag, den 18. September 1882 aus dem digitalen Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek in der Rubrik Verstorbene und Wiener Zeitung Montag, den 23. Mai 1892
- [5] Bild „Im Dezember 1888…“ die Bau- und Holzarbeiter im Wandel der Zeiten 1867 – 1992, 125 Jahre Gewerkschaft Bau-Holz, 1992, ÖGB-Verlag, ISBN 3-7035-0465-X, Seite 31
- [6] Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe II, Herausgeben vom Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, Wien 1923, Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Seite 26 ff
- [7] Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe II, Herausgeben vom Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, Wien 1923, Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Seite 217 ff
- [8] Digitales Archiv der Öasterreichischen Nationalbibliothek, Neues Wiener Tagblatt, Donnerstag, den 18.April 1895, Nr. 105, Seite 5
- [9] Marliese Mendel, Homepage des ÖGB zu Gewerkschaftsgeschichte – Victor Adler und die Ziegelarbeiter:innen
- [10] Victor Adler mit ZiegelarbeiterInnen bei einem Fest zu seinen Ehren am Laaer Berg in Wien (1903) VGA – Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung
- [11] Vorstand der Union der Ziegelarbeiter (1910) VGA – Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung