Ein Artikel von Elisabeth Luif am Refak-Blog
Betriebsräte und gewerkschaftliche Bildungsarbeit im frühen 20. Jahrhundert
Im Jahr 1919 wurden Betriebsräte in Österreich erstmals rechtlich verankert – ein Meilenstein für die Demokratisierung im Betrieb und für neue Wege in der Bildung. Wieso lohnt sich der Blick in die Geschichte? Angesichts der sich aktuell zuspitzenden Situation (Energiekrise, Inflation) könnte uns die ursprüngliche Idee der Betriebsräte – eine Demokratisierung der Wirtschaft im Interesse der Vielen – einen Anhaltspunkt für alternative Wege bieten
Vorgeschichte: Gewerkschaftliche Vertrauensmänner und Arbeiterräte
Erste Formen der betrieblichen Mitbestimmung entstanden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In einigen Betrieben konnten sich gewerkschaftliche Vertrauenspersonen durchsetzen, allerdings ohne rechtliche Absicherung.
Während dem Ersten Weltkrieg verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung. Bald kam es zu Protesten, an den Jännerstreiks 1918 beteiligten sich hunderttausende Arbeiter:innen. Als Form „proletarischer Selbsthilfe“ wurden Arbeiter- und Soldatenräte gegründet. Sie forderten eine Räterepublik basierend auf direkter Demokratie.
Betriebsräte: Wegbereiter für eine sozialistische Wirtschaft
Im November 1918 wurde Österreich eine demokratische Republik. Die bürgerlichen Parteien befürchteten eine Revolution und waren zu Zugeständnissen an die (weniger radikale) sozialdemokratische Partei bereit. Um die Demokratie auf politischer Ebene auch auf die Wirtschaft auszuweiten, wurde eine Sozialisierungskommission eingerichtet.
Sie sollte die Enteignung der Großindustrie und Banken vorbereiten, die später durch Vertreter:innen der Arbeiterschaft mitkontrolliert würden. Vor diesem Hintergrund wurde im Mai 1919 das Betriebsrätegesetz beschlossen. In den Betriebsräten sollten die Arbeiter:innen die Führung eines Unternehmens erlernen.
Betriebsräte konnten fortan in Unternehmen ab 20 Beschäftigten gewählt werden, ihre Aufgaben umfassten die Vertretung der Interessen der Belegschaft, den Abschluss und die Überwachung von Kollektivverträgen sowie die Einsichtnahme in Bilanzen und Lohnlisten.
Kritik von Unternehmen und Gewerkschaften
Es war keine Überraschung, dass die Unternehmerseite vom neuen Gesetz nicht begeistert war. Die Zeitschrift Der Arbeitgeber stellte am 15. Mai 1919 resigniert fest: „[D]er Unternehmer hat endgültig aufgehört, Herr in seinem Haus zu sein.“
Doch auch die sozialdemokratischen freien Gewerkschaften waren anfangs skeptisch. Sie befürchteten Konkurrenz durch die Betriebsräte und die Entstehung von Betriebsegoismus. Über Schulungen sollten die Betriebsräte in Folge an die eigene Organisation gebunden werden.
Erste Betriebsräteschulen und die neue Zeitung „Der Betriebsrat“
Die sozialistische Zentralstelle für das Bildungswesen organisierte in Zusammenarbeit mit den freien Gewerkschaften bald erste Betriebsräteschulen. Diese fanden über drei Monate lang zwei Mal wöchentlich statt und sollten neuen Betriebsrät:innen umfassende rechtliche und praktische Kenntnisse vermitteln.
Die Zentralstelle berichtete in ihrer Zeitschrift Bildungsarbeit regelmäßig über die Entwicklung der Betriebsräteschulen. Gab es 1919/1920 erst neun Lehrgänge, waren es 1929 bereits 66. Die Zeitung Der Betriebsrat vermittelte zusätzlich praktische Informationen.
Es gab jedoch auch Schwierigkeiten. So fehlten Angebote außerhalb Wiens fast vollständig. Frauen waren in den Schulungen stark unterrepräsentiert (was bis heute ein Thema ist). Die Gewerkschaften waren durch die Wirtschaftskrise der späten 1920er mit sinkenden Mitgliederzahlen und finanziellen Problemen konfrontiert.
Neue Methoden in der Bildung: In Kleingruppen zu mehr Selbstbewusstsein
In der Tradition der Arbeiter:innenbildung des späten 19. Jahrhunderts wurden in den Betriebsräte- und Gewerkschaftsschulen neue Formen des gemeinsamen Lernens erprobt. Statt Frontalvorträgen standen gemeinsame Diskussionen in kleinen Gruppen im Mittelpunkt. So sollte die geringe Vorbildung und das fehlende Selbstbewusstsein vieler Betriebsrät:innen wettgemacht werden.
Bei Betriebsexkursionen konnten die Teilnehmer:innen die Lage ihrer Kolleg:innen in der Praxis erleben. Das Zentralorgan der Hotel-, Gast- und Kaffeehausangestellten berichtete am 15. November 1924: „Der Kellner lernte den Zeitungsdrucker, den Kohlenbergarbeiter usw. kennen, und so entspinnt sich durch dieses persönliche Bekanntwerden ein geistiges Band, das den Solidaritätsgedanken fördert.“
Gegen den „revolutionären Schutt“
Im Jahr 1920 schied die sozialdemokratische Partei aus der Regierung aus und die bürgerlichen Regierungen gingen an die Beseitigung des „revolutionären Schutts“. Die Tätigkeiten der Sozialisierungskommission wurden eingestellt. Die Betriebsräte blieben bestehen, wurden allerdings in der Zeit des Austrofaschismus (1933–1938) abgeschafft. An ihre Stelle traten die Werksgemeinschaften unter der Kontrolle der Unternehmer. Während dem Nationalsozialismus (1938–1945) wurden jegliche eigenständigen Arbeitnehmer:innen-Vertretungen abgeschafft, Löhne und Arbeitsbedingungen autokratisch bestimmt.
Ausblick in die Zweite Republik
Im Jahr 1947 wurde das Betriebsrätegesetz wieder eingeführt. Es ähnelte jenem von 1919, hatte nun aber eine andere Zielsetzung. Nicht mehr die Sozialisierung der Wirtschaft, sondern der wirtschaftliche Wiederaufbau und die Kooperation im Rahmen der Sozialpartner:innenschaft standen im Vordergrund. Die Bildungsarbeit für Betriebsrät:innen wurde im Rahmen des überparteilichen ÖGB fortgesetzt und substanziell ausgebaut. Das vorrangige Ziel dabei war die Verankerung eines demokratischen Bewusstseins nach den Erfahrungen des Nazi-Regimes. Hier geht es zu einem Blick auf die weiteren Entwicklungen.
Was bringt uns der Blick in die eigene Geschichte?
Dazu ein Gedanke zum Abschluss: Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und Kämpfen unserer Vorgänger:innen kann uns zu neuen Zukunftsperspektiven inspirieren. Angesichts der sich aktuell zuspitzenden Situation (Energiekrise, Inflation) könnte uns die ursprüngliche Idee der Betriebsräte – eine Demokratisierung der Wirtschaft im Interesse der Vielen – einen Anhaltspunkt bieten.