So gewaltig ist nichts wie die Angst

Ein Lektürentipp von Ingrid K. für unsere Studienreise – ein Buch von Stefan Horvath. 2016 wird er mit dem Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil ausgezeichnet. Am 5. Februar 1995, einen Tag, nachdem sein Sohn Peter Sárközi und drei andere junge Roma beim Terroranschlag von Oberwart ermordet worden waren, begann Stefan Horvath zu schreiben.

Stefan Horvath
Er schrieb, weil er nicht mehr schlafen konnte, weil er sein ganzes Leben lang, wie er selbst sagte, still geblieben war, so wie auch schon sein Vater, der die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald, Gusen und Mauthausen überlebt hatte und seine Mutter, Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück. Seit 1995, seit seinem 46. Lebensjahr, schreibt Stefan Horvath, er schreibt über das Überleben der Roma in Oberwart während des Porajmos, über das Leben nach 1945, nach 1995.

Auszug aus dem Buch – So gewaltig ist nichts wie die Angst – ISBN: 978-3-99016-126-5,
© edition lex liszt 12, Ersterscheinung: 2017

Man lebte damals Tür an Tür, Wand an Wand. Man hörte jede
Streiterei und auch so manches Wehklagen, und manchmal hätte
man sein Leben auch gleich öffentlich zur Schau stellen können,
denn private Rückzugsmöglichkeiten gab es nicht. In der Baracke
wurde gelebt, geliebt, geboren und gestorben. Diskretion und
Toleranz waren daher besonders wichtig. Im Allgemeinen gelang
es den Bewohnern ganz gut, diese Herausforderung zu meistern,
aber nicht immer konnte man sich dem Geschehen entziehen.
Bei Todesfällen wurde die Leiche in einem Raum bis zur Beerdigung aufgebahrt, und in dieser Zeit hatte man nur einen Raum
zum Wohnen zur Verfügung. Für die Kinder war diese Zeit mit
Angst verbunden, denn das Sterben war bei den Roma genauso
ein Tabuthema wie die Sexualität. Es wurde vor den Kindern
nie darüber gesprochen und nur bei Streitigkeiten erfuhr man
etwas davon.
Ab 1953 jedoch begann sich die Situation in der Baracke und
das Bild rund um sie radikal zu verändern, denn einige Roma
aus der Baracke begannen entlang des Weges neue Häuser zu
bauen. Finanziert wurden diese Bauten zum großen Teil aus den
ersten Entschädigungszahlungen, die von der Republik Österreich an die überlebenden Opfer der Konzentrationslager ausbezahlt wurden. Diese Häuser wurden ausschließlich von einem
Oberwarter Baumeister in Massivbauweise errichtet. Sie hatten
im Schnitt zwischen 40 und 50 Quadratmeter Wohnfläche und
auch diese Bauten hatten keinen Strom oder Fließwasser. Sie
wurden sehr schnell errichtet, und Zug um Zug zogen die neuen
stolzen Besitzer aus der Baracke aus und in die neuen Wohnstätten ein. Das letzte Haus in dieser Siedlung wurde 1963 fertiggestellt.
Damit war nun aber auch der Startschuss für das Aufnehmen
anderer Bewohner in die Baracke gefallen, denn innerhalb
kürzester Zeit transferierte die Gemeinde unliebsame Bewohner
aus der Stadt in diese Baracke. Die neuen Bewohner stammten
zum großen Teil aus der Mehrheitsbevölkerung, die von den
Roma „Gadsche“ genannt wurden. Diese Leute galten in der
Stadt als asozial und hatten genauso wenig Akzeptanz bei der
Stadtbevölkerung wie die Roma. Es waren Menschen, die irgendwann, irgendwie und irgendwo gescheitert waren und jetzt
gezwungenermaßen in dieser Baracke eine neue Bleibe gefunden
hatten. Ähnlich wie für die Roma einige Jahre zuvor, muss es
auch für sie eine Herausforderung gewesen sein, unter diesen
Umständen hier zu leben und sich eine neue Existenz aufzubauen. Es war ein bunt durchmischter Haufen von Personen,
die die Baracke wieder beleben hätten können, doch es waren
Menschen, denen der Krieg jegliche Illusion und jegliche Zukunft genommen hatte. Unter ihnen waren schwere Alkoholiker
und so manche Straffällige, aber auch einige Gaukler und
Hochstapler. Es waren Schweigsame und Beredte darunter,
Stumme und Taube, Stille und Laute, Aggressive und Ruhige,
Fleißige und Faule. Und auch so manche Kriegsversehrte waren
unter den neuen Bewohnern zu finden. Diese brisante Mischung
ergab für alle Beteiligten eine völlig neue Situation, die anfangs
auch für Konflikte sorgte. Ab und zu endeten sie auch in einem
Raufhandel, bei dem eigentlich alle Verlierer waren. Mit der Zeit
einigte man sich auf eine für alle zufriedenstellende Lösung und
es kehrte wieder Ruhe ein.
Als die letzten Roma 1963 aus der Baracke ausgezogen waren,
wurde die Baracke nur noch von den „Gadsche“ bewohnt. Die
Baracke war nur mehr halbvoll und war nicht mehr der Mittelpunkt in der zweiten Roma-Siedlung.
Im November 1972 wurde auf Beschluss der Landesregierung
und der Gemeinde die zweite Roma-Siedlung aufgelöst. Grund
dafür war, dass der Neubau des Oberwarter Krankenhauses ausgerechnet auf den Grundstücken geplant wurde, auf denen sich
die Siedlung befand. Man hätte damals wesentlich bessere
Flächen dafür zur Verfügung gehabt, aber man wollte in Wirklichkeit die Roma noch weiter außerhalb der Stadt haben. Daher
wurden, wie schon 1938/1939, die Häuser der Roma dem Erdboden gleichgemacht, und auch die Baracke, mein Geburtsort,
niedergerissen.
Damit ging in Oberwart eine Ära zu Ende, die so von den ehemaligen Bewohnern der ersten und zweiten Roma-Siedlung
nicht geplant war. Beim Auszug aus der Baracke 1972 wurden
die „Gadsche“ für die damaligen Verhältnisse gut entschädigt,
denn sie bekamen Ersatzwohnungen oder leer stehende Häuser
in Oberwart zugewiesen. Für die Roma aus Oberwart gab es
diese Variante nicht. Sie hatten nur die Wahl in die vom Land
und der Gemeinde errichtete dritte Roma-Siedlung mitzugehen
oder aus Oberwart abzuwandern. Diese dritte Siedlung wurde
dann natürlich noch weiter außerhalb der Stadt errichtet, wieder
in der Nähe eines Waldes und wieder inmitten einer ehemaligen
Sandgrube. Die Wohnfläche der einzelnen Häuser wurde der
zweiten Siedlung mit 40 bis 50 Quadratmetern angepasst. Der
einzige Komfort, der den Bewohnern jetzt zugestanden wurde,
waren Strom und Fließwasser. Die meisten der einst Überlebenden aus den Konzentrationslagern und damit die ersten Bewohner in der zweiten Siedlung starben kurz nach dem Einzug
in die dritte Siedlung. Sie starben, so glaube ich, an ihren gebrochenen Herzen.
Heute lebe ich immer noch in der dritten Roma-Siedlung in
Oberwart und denke oft mit Wehmut an diese Baracke, die mein
Geburtsort war. Es ist ein Ort, an dem mit dem Ende der
Baracke viele schöne Erinnerungen geblieben sind.