“Wir bestiegen den Zug mit Angst”

Das sind die Gefühle des sieben Jahre alten Steven Hess als er 1945 einen Zug nach Theresienstadt betritt. Die SS beginnt Teile des KZ Bergen-Belsen zu räumen. Wir lesen diese Zeilen als wir eine Ausstellung im Elbschifffahrtsmuseum in Lauenburg besuchen.

Der verlorene Transport

Der Verbleib des dritten Transports war zunächst unklar deshalb die Bezeichnung „Verlorener Transport”. In dem Zug sind etwa 2.500 Jüdinnen und Juden, unter ihnen etwa 500 Kinder und Jugendliche. 14 Tage irrt der Transport mit den Geiseln in Richtung Osten. Strecken sind unpassierbar, in Städten wie Berlin tobt der Krieg. Auch für den Zug besteht immer die Gefahr, angegriffen zu werden.

In dieser Ausstellung werden einzelne Schicksale der damaligen Kindern Jahrzehnte danach aus ihrer Sicht als Überlebende beleuchtet.

Stefan und Marion Hess werden 1938 in Amsterdam geboren. Ihre Eltern Ilse und Karl stammen aus Deutschland. Der Vater, ein Handelsvertreter, wird 1937 von seiner Firma in die Niederlande versetzt. Beim Einmarsch der Wehrmacht 1940 misslingt die Flucht nach England.

Im Sammellager „Hollandsche Schouwburg” hilft Karl Hess Inhaftierten zur Flucht. Kurz bevor die Familie untertauchen kann, wird sie 1943 verhaftet und ins Durchgangslager Westerbork transportiert. Karl Hess erreicht, dass die Familie als Austauschgefangene in das KZ Bergen-Belsen kommen, anstatt ostwärts deportiert zu werden.

Nach dem Willen des NS-Regimes sollten jüdische Kinder und Jugendliche grundsätzlich ermordet werden. Und tatsächlich überlebten in Europa nur schätzungsweise 150.000 jüdische Kinder und Jugendliche den Holocaust.1

Nach allem, was wir durchgemacht hatten, waren wir keine Kinder mehr. Wir waren Erwachsene, wir dachten wie Erwachsene und redeten wie Erwachsene.

Durch massive Überfüllung, fehlende Versorgung und Seuchen wird das Lager Bergen-Belsen zu einem Ort des Massensterbens. Auch für die Kinder ist der Tod allgegenwärtig. Jden Tag müssen sie mitansehen wie Menschen um sie vor Entkräftung und Hunger sterben.

Wir gehen durch die Ausstellung. Die Rollups mit den Geschichten der Überlebenden stehen wie Mahnmale der Geschehnisse. Wie Kindern ihre Kindheit, ihr Leben gestohlen und vernichtet wurden. Wenn uns die Kinder auf diesen Tafeln anblicken, wir ihr Schicksal lesen, klagen die gezeichneten Augen in den Gesichern an. Die Kriege rund um uns, auch hier sind Menschen und vor allem Kinder wieder die Opfer dieses Wahnsinns.

Hannah Goslar trifft Anne Frank wieder im Konzentrationslager

Hannah Goslar ist etwa fünf Jahre alt, als sie erstmals auf Anne Frank im Kindergarten in Amsterdam auf sie trifft. Sie freunden sich in der Schule an. Dass sich Anne und ihre Familie vor der Gestapo verstecken, erfährt jedoch Hannah nicht. Erst zwei Jahre später kommen sie wieder in Kontakt – an einer hohen Wand aus Stacheldraht und Stroh im KZ Bergen-Belsen. Hannah versucht ihrer Freundin noch zu helfen, doch Anne stirbt entkräftet an einer Typhuserkrankung. Hannah wird später, schwer erkrankt, in Tröbitz befreit.

Micha Gelber, 1945 neun Jahre alt

Micha Gelber ist acht Jahre alt, als er 1944 in das KZ Bergen-Belsen verschleppt wird. Er ist dort mit seinen Eltern Meta und Erich und seinem älteren Bruder Eduard zusammen. Täglich sterben viele Menschen, auch seine Freunde. Ihre Leichen werden verbrannt oder einfach auf den Wegen liegengelassen. Im KZ erlebt Micha seinen 9. Geburtstag. Seine Eltern können den grauenvollen Alltag nicht vor ihren Kindern verbergen. Der Tod ist allgegenwärtig. Micha versucht, das nicht zu nahe an sich heranzulassen.

Immer wieder besucht Micha Tröbitz

Micha Gelber ist Vater, Großvater und Urgroßvater von drei Kindern, vier Enkelkindern und zwei Urenkeln. Bis heute beschäftigt er sich viel mit den Erlebnissen in seiner Kindheit.

Als Vorsitzender der „Vereinigung des Verlorenen Transports” in den Niederlanden kümmert er sich gemeinsam mit Freunden um Besuche in Tröbitz und sucht nach Überlebenden. Seine Erinnerungen teilt er auch mit Schulklassen. Seine Tochter Iris begleitet ihn 2015 erstmals zu den Gedenkveranstaltungen. Vor Ort, in Tröbitz, kann sie besser verstehen, was ihr Vater Micha als Kind erlebt hat.

Tröbitz

Tröbitz im Nationalsozialismus 1933-1945

Im Wahlkreis 5, zu dem Tröbitz gehört, bleiben die Nationalsozialisten bei Reichstagswahlen mit 48,1% im Juli und 42,6% im November 1932 stärkste Partei. Im Bergarbeiterdort Tröbitz hingegen wählen bei Landtagswahlen im März 1933 noch zwei Drittel sozial- demokratisch. Nach Kriegsbeginn 1939 werden die meisten Männer als Soldaten zur Wehrmacht eingezogen. In der Grube Hansa und auf Bauernhöfen kommen Zwangsarbeiter, Frauen und Männer, aus Polen und der Ukraine zum Einsatz. In den letzten Monaten des Krieges treffen vor der Roten Armee fliehende Deutsche aus dem Osten in Tröbitz ein. Weil Angehörige der Hitler-Jugend eine Eisenbahnbrücke über die Elster sprengen, kommt der Verlorene Transport” in Tröbitz zum Stehen.

Am 23. April 1945 stießen Soldaten der Roten Armee bei Tröbitz auf einen Häftlingstransport aus dem KZ Bergen-Belsen. Eingepfercht in 45 »Viehwaggons« fanden sie etwa 2.500 Menschen, die zwölf Tage lang unter den katastrophalen Bedingungen des Transports gelitten hatten.
Auf Befehl der Roten Armee hatten die umliegenden Dörfer eilig Unterkünfte und genügend Verpflegung bereitzustellen. Doch das Engagement der Tröbitzer:innen ging über das Befohlene weit hinaus. »Ich war überrascht, welche Kräfte diese Frauen besaßen und wie hart sie anpackten«, beschrieb die Überlebende Renata Laqueur2.

Wohnbaracke im Lager Nordfeld (aufnahme aus den 1980er-Jahre). In einem ehemaligen Zwangsarbeiter-Lager in Tröbitz-Nordfeld werden Typhuskranke isoliert. Zahlreiche Erkrankte sterben dort. Unter ihnen sind auch 26 Frauen und Männer aus Tröbitz, die die Überlebenden gepflegt und sich dabei angesteckt haben.

“Ein Davidstern im Eingangstor zum Friedhof in Tröbitz, einer kleinen brandenburgischen Gemeinde im Landkreis Elbe-Elster. Tröbitz ist vielleicht das einzige Dorf in Deutschland, wo in der Vergangenheit nie Menschen jüdischen Glaubens gelebt haben, zu dem aber ein jüdischer Friedhof gehört.3

Denkmal am Bahngleis bei Langennauendorf mit neuer Informationstafel. Foto: Bertold Weidner4

1995 wurde auf dem Friedhof im Beisein vieler Angehöriger von Überlebenden eine etwa 10 Meter lange Gedenkwand aus schwarzem Granit eingeweiht, die die Namen von 550 bekannten Opfern des »verlorenen Zuges« trägt.5 

Siebzig Jahre später fand ein bewegendes Zusammentreffen statt. Überlebende mit ihren Familien und Angehörige der Toten, vor allem aus
Israel und den Niederlanden, kamen am 23. April nach Tröbitz. Mit einer Feier und der
Einweihung einer Open-Air-Ausstellung gedachte man der Opfer und der Befreiung
des »Verlorenen Zuges«.


Quellenverzeichnis

  1. Ausstellungsunterlagen und Website “Der verlorene Transport” ↩︎
  2. Brandenburgische Gesellschaft für Kultur und Geschichte GmbH 2024 – der verlorene Transport ↩︎
  3. Homepage der Gemeinde Tröbitz – Auszüge aus der Broschüre von Erika Arlt: Die jüdischen Gedenkstätten, Hrsg. Landreis Elbe-Elster, Herzberg 1999 ↩︎
  4. »Der verlorene Transport« G E D E N K E N A N D I E T O T E N I N T R Ö B I T Z
    ZUM 70. JAHRESTAG DER BEFREIUNG Stefanie Endlich ↩︎
  5. Denkmäler für die Opfer des »Verlorenen Transports« ↩︎

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