Arbeiten, Wohnen und Freizeitgestaltung der Arbeiterfamilien in Wien im späten 19. Jahrhundert

Ein Artikel von Rainer Plot zu unserem Rundgang Arbeiten und Wohnen am Wienerberg.

Die Gesellschaft

Die Bevölkerung Wiens im späten 19. Jahrhundert kann grob unterteilt werden in die kleine betuchte Schicht des Adels, des Hofstaates, der höheren Beamten und des Großbürgertums, und andererseits in die weitaus größere Schicht der unter schwierigsten Rahmenbedingungen lebenden Dienstboten, Handwerker, kleinen Gewerbetreibenden und ArbeiterInnen.

Bevölkerungsentwicklung von Wien

Während die betuchte Schicht das gesellschaftliche Leben Wiens prägte und die vielzähligen Kulturveranstaltungen, Cafés, Restaurants und Vergnügungsstätten wie etwa den Wiener Prater bevölkerte, lebten die ArbeiterInnen der kleinen Gewerbebetriebe unter miserablen sozialen und hygienischen Bedingungen und konnten am gesellschaftlichen Leben nicht teilhaben. Eigener Wohnraum war nicht leistbar, die meisten mussten in der Wohnung bzw. im Haus der Meister leben. Nicht selten teilten sich mehrere Personen ein kleines Zimmer, waren jedoch nicht in den Haushalt des Meisters integriert.

Die Wirtschaft

Wien entwickelte sich im 19. Jahrhundert zur bedeutendsten Industriestadt der Habsburgermonarchie. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wurde eine breite Palette exportfähiger Luxusgüter vorwiegend in kleingewerblichen Strukturen produziert. Die kleinen Gewerbebetriebe mit durchschnittlich 1-5 Beschäftigten befanden sich in Hinterhöfen, in Kellern oder sogar direkt in den Wohnungen der Gewerbetreibenden. Tägliche Arbeitszeiten von 14-16 Stunden waren die Regel.

Schmidtstahlwerke in Favoriten während des Ersten Weltkriegs aus Metallerleben Seite 155

Mit der beginnenden Industrialisierung entstanden auch erste größere Betriebe mit „industriellen“ Fertigungstechniken. Diese siedelten sich nach Schleifung der Stadtmauern

1858 und eines entsprechenden Dekrets des Kaisers Franz II. in den damaligen Vororten Wiens an. Der wirtschaftliche Erfolg spiegelte sich auch in der Teilnahme vieler Wiener Unternehmer an den internationalen Ausstellungen in London oder Paris wider. 1873 folgte die Weltausstellung in Wien, welche jedoch durch den Börsenkrach vom 9. Mai 1873 zu einem Misserfolg wurde.

Die Bevölkerung Wiens

Der wirtschaftliche Erfolg machte Wien auch zum Magneten für Menschen aus den ländlichen Gebieten der Monarchie. Durch den Zuzug aus Böhmen, Mähren und zum kleineren Teil auch aus Ungarn wuchs die Bevölkerung Wiens zwischen 1830 und 1880 von 380.000 auf 1,150.000, um 1900 lebten bereits etwa 2,000.000 Menschen in Wien.

Die meisten Zuwanderer kamen nicht um zu bleiben, es gab ein ständiges Kommen und Gehen. Viele sahen Wien als Chance, möglichst rasch Geld zu verdienen und zu sparen, um in der Folge nach Hause zurückzukehren, den überschuldeten Hof zu sanieren und sich in ihren Herkunftsländern eine Existenz aufzubauen.

Zuwanderung nach Wien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die sozialen und gesellschaftlichen Probleme durch die Massenzuwanderung waren beträchtlich. Soziale Absicherung in Notlagen gab es nur auf Grundlage des Heimatrechts, es war also die Herkunftsgemeinde dafür zuständig. Das bedeutete im Falle einer Notlage meist den Verlust des Arbeitsplatzes und die Abschiebung in die Herkunftsgemeinde. 1880 hatten nur etwa 1/3 der in Wien lebenden Menschen auch das Wiener Heimatrecht.

Die weitaus größte Gruppe an Zuwanderern kam aus Böhmen und Mähren, um 1900 waren etwa 25% der BewohnerInnen Favoritens Tschechen.

Die Entstehung des Arbeiterbezirkes Favoriten

Die Massenzuwanderung nach Wien und die damit verbundene Wohnungsnot löste auch eine starke Bautätigkeit aus. Finanzkräftige Industrielle bauten vorerst in Wien Zinshäuser mit niedrigstem Standard um sie zu vergleichsweise hohen Preisen an Arbeiterfamilien zu vermieten. Im Gegensatz zum sozialen Wohnbau im roten Wien um 1920-1930 waren diese Wohnungen nur das sprichwörtliche Dach über dem Kopf und hatten außer Schutz vor den Widrigkeiten des Wetters nichts zu bieten. Eine durchschnittliche Arbeiterfamilie musste dafür jedoch etwa 25% des Einkommens für die Miete aufwänden, was für die meisten Familien nur leistbar war, wenn Untermieter oder Bettgeher in die ohnehin kleinen Wohnungen aufgenommen wurden. Für die Investoren war es ein einträgliches Geschäft, flossen doch durch die eingenommenen Mieten wieder erhebliche Bestandteile der zuvor bezahlten Löhne zurück.

Stadtplan von 1892

Durch die intensive Bautätigkeit begann auch ein Höhenflug für die am Wienerberg angesiedelte Ziegelproduktion. Mit fortschreitender Industrialisierung und immer größer werdenden Betrieben siedelten sich diese vermehrt außerhalb des Linenwalls an. Grund und Boden war dort reichlich verfügbar und billig.

1874 ÖNB (www.bildarchiv.at)

Durch die Fertigstellung und Erweiterung der beiden großen Bahnlinien (Gloggnitzer Bahn – Südbahn und Raaber Bahn – Ostbahn) im Bereich des 1869-1873 errichteten 2. Südbahnhofes war das Gebiet des heutigen 10. Bezirkes besonders attraktiv.

Rund um die Industriebetriebe errichteten die Industriellen auch gleich entsprechende Arbeiterwohnhäuser mit ähnlich niedrigem Standard und zu ähnlich hohen Mieten. Industrieanlagen und Wohnhäuser wurden in einem rasterartigen Schema angelegt und so hatte Favoriten, anders als andere Vororte die später als Bezirke in das Stadtgebiet integriert wurden, kein natürlich gewachsenes Bezirkszentrum. Insgesamt war das Leben dennoch für alle durch den Wegfall der Linienverzehrungssteuer deutlich billiger. Viele Arbeiterfamilien aus dem Stadtgebiet waren aufgrund der ständig steigenden Mieten gezwungen, ebenfalls ins billigere Favoriten zu ziehen. 1874 erfolgte schließlich die Eingemeindung als 10. Bezirk in das Wiener Stadtgebiet, unter Erhaltung der Befreiung von der Linienverzehrungssteuer.

Das Schicksal der ArbeiterInnen in der Ziegelfabrik am Wienerberg widmete sich auch Dr. Victor Adler, Arzt und Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs am 30.12.1888 am Parteitag in Hainfeld. 1889 engagierte sich Victor Adler als Delegierter am internationalen Sozialistenkongress in Paris maßgeblich für die internationale Solidarität der ArbeiterInnen, die Einführung des 8-Stunden Arbeitstages und die solidarische internationale Arbeitsniederlegung am 1. Mai, als Zeichen des Protestes und zur Unterstreichung der Forderung. Am 1. Mai 1890 wurden in Österreich und besonders in Wien erstmals eindrucksvolle Versammlungen und Feiern durch die ArbeiterInnen abgehalten. 29 Jahre später, am 25. April 1919, wurde der 1. Mai durch den Nationalrat zum Staatsfeiertag erklärt.

Nach der Arbeit

ÖNB-Archiv – Die Glühlichter am 9. Juni 1894, Seite

Vom wirtschaftlichen Erfolg der Betriebe hatten die Beschäftigten nichts. Die Arbeit richtete sich nach dem Takt der Maschinen, 12-16 Stunden-Tage waren die Regel. An Wochentagen war daher keinerlei Freizeitgestaltung denkbar, die Menschen brauchten die Zeit daheim um sich für den nächsten Tag zu regenerieren. Gaststätten in der näheren Umgebung der Wohnhäuser stellten die einfachste Möglichkeit für etwas Entspannung und Unterhaltung dar und waren auch Verteilstelle für Neuigkeiten und Informationen aller Art. Allerdings war auch der Konsum von Alkohol beträchtlich und stellte ein zunehmendes Problem dar.

An den Wochenenden war jedoch Zeit für Unternehmungen mit der Familie. An Vergnügungen wie den Fahrgeschäften im Prater war aufgrund der finanziellen Lage nicht zu denken. Die meisten Familien nutzen die Wochenenden für Ausflüge ins Grüne, wo sich viele Ausflugsgaststätten ansiedelten. Rund um die Gaststätten entstanden auch der Finanzkraft der Arbeiterfamilien

entsprechende Vergnügungsangebote wie Tanzveranstaltungen, Darbietungen von Schaustellern oder Kegelbahnen. An den Wochenenden war jedoch Zeit für Unternehmungen mit der Familie. An Vergnügungen wie den Fahrgeschäften im Prater war aufgrund der finanziellen Lage nicht zu denken. Die meisten Familien nutzen die Wochenenden für Ausflüge ins Grüne, wo sich viele Ausflugsgaststätten ansiedelten. Rund um die Gaststätten entstanden auch der Finanzkraft der Arbeiterfamilien entsprechende Vergnügungsangebote wie Tanzveranstaltungen, Darbietungen von Schaustellern oder Kegelbahnen. Im Gebiet des Laaerberges entstand der böhmische Prater, wo rund um einige Gaststätten eine Reihe von Vergnügungsbetrieben entstanden, die den Arbeiterfamilien an den Wochenenden Gelegenheit zur Entspannung boten. Besonders zu erwähnen sind auch die vielfältigen Initiativen der tschechischen Bevölkerungsgruppe, die viele Kultur-, Bildungs- und Geselligkeitsvereine gründeten.


Quellen:

  • Hans W. Bousska: Versunkene Wiener Arbeitswelten, Sutton Verlag GmbH, 2010
  • Wolfgang Slapansky: Das kleine Vergnügen an der Peripherie – Der böhmische Prater in Wien, Picus Verlag, 1992
  • Richard Klucsarits: Der 1. Mai – Seine Geschichte und Bedeutung, 2. ergänzte und veränderte Auflage, Dr. Karl Renner Institut, 1980