Machtvolle Solidarität und Stärke – STREIKERFAHRUNGEN eines Betriebsrats

Die sogenannte Nervenschlacht beginnt. Bleiben wir uns aber der Tatsache bewusst, dass unsere größte Stärke im gemeinsamen Zusammenhalt besteht und vor allem jetzt, wo vorderhand keine neuen Aktionen gesetzt werden, unsere geschlossene Front nicht durchlöchert werden darf. 1

Betriebsauschuss der Wertheimwerke am 9.12.1976


Brigitte Drizhal interviewt den ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden des Angestelltenbetriebsrats der Wertheim-Werke AG und fasst seine Erfahrungen in diesem Artikel zusammen.

In den 70er Jahren waren über 1000 Arbeiter und etwa 430 Angestellte beschäftigt.  Der Betriebsrat für die Angestellten und Arbeiter hatte über die Jahre Sozialleistungen ausverhandelt, die bis Mitte der 80er Jahre ausgebaut und zum größten Teil bis heute erhalten werden konnten.

Ende 1975 erklärte die Unternehmensleitung dem Betriebsrat, dass die Firma in wirtschaftlichen Schwierigkeiten sei. Die Belegschaft verzichtete daraufhin erstmals auf eine Forderung nach innerbetrieblichen Lohnerhöhungen und akzeptierte, dass der Personalstand um ca 150 Mitarbeiter durch freiwillige Austritte gesenkt wurde.

Das Interview führte Brigitte Drizhal, stellvertretende Vorsitzende des Verein Rote Spuren.

Bilanz 1975

Als die Betriebsräte Mitte 1976 die Bilanz für 1975 bekamen, wurde bekannt, dass an die Aktionäre 10 % Dividende ausbezahlt worden war. Zu diesem Zeitpunkt waren auch die Auftragsbücher wieder voll und zahlreiche Überstunden geleistet.

Der Kampf um bessere Einkommen von September 1976 bis Februar 1977 – ein Streiktagebuch nach 45 Jahren

Auf mehrfachen Wunsch aus der Belegschaft

Als diese Tatsachen der Belegschaft bekannt wurden, verlangten mehrere Delegationen vom Betriebsrat die Aufnahme von Verhandlungen über generelle Lohn- und Gehalts-erhöhungen.
Im September kam es zu Verhandlungen mit der Direktion. Es gab zwar eine Bereitschaft der Firmenleitung für eine einmalige Prämie, jedoch keine für innerbe-triebliche Lohnverhandlungen. 3

Wollen wir es schnell erreichen,
brauchen wir noch dich und dich.
Wer in Stich lässt seinesgleichen,
lässt ja nur sich selbst im Stich.

Berthold Brecht, Solidaritätslied, 1929/1930

Am 11. Oktober 1976 kam es – als erstes Teilergebnis – zu einer Vereinbarung mit der
Firmenleitung. Diese Vereinbarung bedeutete für jeden Wertheimer eine einmalige Prämie von S1300.- für das Jahr 1976.
Die Lohnforderungen waren damit noch nicht erfüllt. Diese wurden in einer Betriebsvollversammlung mit 5%, mindestens S 500,- konkretisiert.
Geltungstermin sollte der 1. Jänner 1977 sein.

Die Firmenleitung stellte erst einen Gesprächstermin über diese Forderungen für die 49.Kalenderwoche in Aussicht. Daraufhin beschloss die Vertrauensleuteversammlung die Abhaltung einer Betriebsversammlung für den 15. November.
Dabei wurde beschlossen ab der 48. Kalenderwoche einen Solidaridätsfond einzurichten.
Jeder Arbeiter und Angestellte solle einen Beitrag von S 25.- bis zu S 8.000.-
Monatseinkommen und S 40.- über S 8.000.- Monatseinkommen zur Finanzierung
zukünftiger Streikaktionen in den Solidaridätsfond einzahlen.

Streik bedeutet Ausfall von Arbeitsverdienst. Und da die Ersparnisse der Arbeiter in der Regel sehr geringe zu sein pflegen, gehört zur Führung von Streiks die Verfügung über ausreichende Mittel zur Unterstützung der Streikenden. 2

Eduard Bernstein, 1905

Die Gründung eines Aktionskommitees

Gleichzeitig wurde per Beschluss das Vertrauensleutegremium in ein „Aktionskomitee”
umgewandelt und erhielt das Recht Kampfaktionen zu beschließen. Die Firmenleitung sagt daraufhin Gespräche für den November zu.

Am 1. Dez. 1976 um 7.00 Uhr lehnt die Firmenleitung Verhandlungen über
Einkommenserhöhungen ab!

Daraufhin wird ab 11:00 Uhr gestreikt!
Die Firmenleitung droht mit Entlassung der Streikenden!
Am 2. Dezember sagen die Vorsitzenden der Gewerkschaften GMBE und GPA, die Koll.
SEKANINA und DALLINGER einer Delegation des Betriebsrates im Parlament volle Unterstützung für den Fall von Entlassungen zu.

Für die Arbeiter:innenbewegung ist Solidarität sowohl Vorbedingung als auch Ergebnis gemeinsamer Kampferfahrungen. Solidarität ist das Bewusstwerden des gemeinsamen Schicksals durch Identifikation, die Sammlung und Koordinierung der Lösungsvorschläge (Organisation) und Festigung der gemeinsamen Interessen durch Information, Bildung und Aktion. 4

Georg Hahn

Die Firmenleitung spricht Entlassungen aus und nimmt sie nach einer Woche mit Streikmaßnahmen zurück

Am 6.Dezember wurden 37 Streikende fristlos entlassen. Der Betriebsrat sammelte die Entlassungsschreiben ein und brachtendiese begleitet von über hundert Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeiter-und Angestelltenschaft in die Direktion zurück.
Die Entlassungen wurden aber nicht zurückgenommen.
Dafür traten nun andere Arbeitnehmer in den Streik um eine Wiedereinstellung der
Entlassenen zu erreichen. Nach einer Woche Dauer wurden die Entlassungen
zurückgenommen.

Am 10.12. fand ein Vermittlungsgespräch zwischen den Präsidenten der Arbeiterkammer, der Bundeswirtschaftskammer und der Firmenleitung statt.

Am Montag, den 13.12. nahm die Firmenleitung die Entlassungen zurück.
Daraufhin wurden die Solidaridätsaktionen für die Wiedereinstellung der Entlassenen vom Aktionskomitee ebenfalls zurückgenommen.

Der Kampf um bessere Gehälter und Löhne geht weiter

Die Firmenleitung war jedoch weiterhin nicht bereit, Lohn- und Gehaltsverhandlungen dem Betriebsrat aufzunehmen, daher wurden die ursprünglichen Punktstreiks weitergeführt.
Im Anschluss an eine von den Aufsichtsrats-Delegierten des Betriebsrates verlangten
Aufsichtsratssitzung am 14.Dezember kam es zu einem Vermittlungsvorschlag des
Vorsitzenden des Aufsichtsrates, Herrn Gen. Dir .Dr. Heinrich Treichl.
Die Firmenleitung wurde beauftragt, unverzüglich in Lohn- und Gehaltsverhandlungen einzutreten und der Betriebsrat erklärte sich bereit, alle Streikmaßnahmen zu beenden.
Am 15. Dezember wurde diese Memorandum sowohl vom Aktionskomitee als auch von
einer Betriebsvollversammlung einstimmig angenommen.

Keine ernsthaften Verhandlungen…

In mehreren Verhandlungen, welche sich bis fast Ende Jänner 1977 zogen, konnte jedoch kein befriedigendes Ergebnis erzielt werden.

Wieder Streiks
Am 21. Jänner 1977 beschloss eine Betriebsversammlung alle Überstunden einzustellen und
tägliche 2-stündige Punktstreiks (Rotierende Streiks)

Und wieder Aufsichtsrat…
Für den 26.Jänner wurde ein weiteres Gespräch zwischen den Delegierten des Betriebsrates

in den Aufsichtsrat und dem Vorsitzenden des Aufsichtsrates Hrn Dr. Treichl anberaumt.
Am 1. Februar wurden dem Betriebsrat aufgrund der Vermittlung von Dr. Treichl weitere
Verhandlungen zugesagt, die rotierenden Streiks wurden ausgesetzt.

Neuerliche Verhandlungen

Am 15. Februar fand zwischen Betriebsrat und Firmenleitung eine abschließende
Verhandlung statt. Das Ergebnis dieser Verhandlung wurde vom Betriebsrat zur Annahme empfohlen und über Beschluss der Vertrauensleuteversammlung am 24.2. einer geheimen Urabstimmung zugeführt und mit 86 Prozent Ja-Stimmen von der Belegschaft anerkannt.

Erläuterungen zu den Maßnahmen und Strukturen, die für diese Kampfmaßnahmen angewendet wurden (“Wertheim-typische” Vorgangsweisen).

Der Punktstreik

Wenn Arbeitnehmer:innen streiken, bekommen sie kein Entgelt von der Firma.
Wenn ALLE AN-Innen streiken, verlieren alle AN-Innen ihr Einkommen, der Streik kann nicht lange durchgehaiten werden!
Daher wurde bald der sog. „Punktstreik” entwickelt.
Es streiken möglichst WENIGE AN-Innen, dafür an Stellen wo es der Firma rasch wehtut!
Z.B. die WAREN-ANNAHME: Warenanlieferungen werden nicht angenommen, LKWs können nicht entladen und verstopfen bald die Wienerbergstraße…
Oder das EXPEDIT: Produkte können nicht ausgeliefert werden, die Kunden können nicht beliefert werden; die Montagestellen bekommen keine Materialien.
Oder die PAUSEREI, damit sind sehr bald die Konstruktionbüros lahmgelegt, obwohl die Konstrukteure nicht streiken.
Auch bestreikt wurden die ELOXIEREREI und das VORBEREITUNGSLAGER.
Wir achteten aber darauf, dass die Produktion selber möglichst wenig behindert wurde, um Folgeschäden eines Streiks gering zu halten!

Jeder Streik, und sei er scheinbar noch so geringfügig, ist eine (kapitale) Bedrohung für die Unternehmer: es steht in erster Linie sein Profit auf dem Spiel, es geht aber auch um das System der privaten Verfügung über die Produktion. Zur Zerschlagung eines Streiks werden die Unternehmer deswegen zu jedem nur möglichen und für sie einsetzbaren Mittel greifen. In einem Artikel der Frankfurter Zeitung/Blick durch die Wirtschaft (vom Dezember 1973) wurde unter der Überschrift »Streik-Management« von 10 Regeln berichtet, »wie ein Streik entschärft werden
kann«. Eine dieser Regeln, vom Management Institut Hohenstein
verfaßt, beinhaltet: »Erfolg oder Mißerfolg der betrieblichen
Streikabwehr hängt unter Umständen davon ab, ob es gelingt, den
Zugang zum Werksgelände offenzuhalten! Improvisierte Zugänge erleichtern den Arbeitswilligen den Weg in den Betrieb. Die mit
der Offenhaltung der Werkstore beauftragten Personen sollen
über die strafrechtlichen Grenzen des Streikrechts informiert sein.
Mit den zuständigen Polizeidienststellen muß rechtzeitig Verbindung aufgenommen werden.«

Werkkreis Literatur der Arbeitswelt 5


Rotierender Streik

Das Streikkomitee beschließt täglich wechselnde Abteilungen 2 Stunden lang zu bestreiken.
Vorteil: geringe psychische Belastung der Betroffenen, geringe Kosten für den Solidaritätsfond, keine Abmeldung von der Sozialversicherung möglich

Der Streikfond / Solidaridätsfond

Die wenigen streikenden Mitarbeiter verlieren ihre Bezahlung, daher – Gründung eines „Wertheim-Streikfonds”:
Jene Belegschaftsmitglieder die NICHT STREIKEN, zahlen in einen internen Streikfond, aus dem die streikenden Kolleginnen das entfallene Entgelt vergütet bekommen.

Das Aktionskomitee / die Vertrauensleute

WER WANN streikte wurde vom täglich einberufenen Aktionskomitee beschlossen

Zum Abschluss – ein leichtgeänderter Refrain aus einem “Streiklied”

Jetzt ist Schluss, jetzt ist Schluss, weil es so nicht weitergeht,
gegen Rausschmiss, Arbeitsdruck hilft nur Solidarität,
denn ganz klar, eins ist wahr, uns platzt auch mal der Kragen
wenn der Arbeiter es will, dann stehen alle Lifte still. 6

Vom Michelinlied

Quellenverzeichnis

  • 1 Ferdinand Karlhofer, “Wilde Streiks in Österreich”, Ludwig-Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft, Böhlau Verlag, 1983, Seite 81, ISBN 3-205-07076-3
  • 2 Der Streik – sein Wesen und Wirken, Eduard Bernstein, Frankfurt am Main Literarische Anstalt, 1905
  • 3 Die Comic stammt aus dem Heft “Arbeitercomic” der KAJÖ, Idee: Franz Schallmeiner und Rainer Remsing
  • 4 Georg Hahn, 1981 in “Bildung ohne Basis” zitiert in Gerhard Winkler “Was ist Solidarität?”, Konstitution von Solidarität als empirisches Phänomen.
  • 5 Werkkreis Literatur der Arbeitswelt – Dieser Betrieb wird bestreikt,, Berichte über die Arbeitskämpfe in der BRD, Fischer Taschenbuch Verlag, 1974, Hrsg. Jürgen Albert, Harry Böseke, Heinz Brand, Heinz Eßlinger, Rolf Knecht, Erasmus Schöfer und Uwe-dieter Stepphuhn, Seite 137, ISBN 3-436-02034-6
  • 6 Kritisches Gewerkschaftsjahrbuch 1979/80, Arbeitskampf um Arbeitszeit, Rotbuch Verlag Berlin, 1980, Hrsg. Otto Jacobi, Eberhard Schmidt, Walter Müller-Jentsch, Seite 139, ISBN 3-88022-080-8